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Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Titel: Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Enger
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Ergebnis wie schon so oft zuvor: Pulli hat ihn observiert. Aber diesmal taucht noch ein weiterer Gedanke auf. Wenn er selbst jemanden observieren müsste, wie würde er vorgehen?
    Er würde sich ein Bild von den Bewegungen des Betreffenden verschaffen. Sich Notizen machen. Fotos schießen.
    Was, wenn Tore Pulli es genauso getan hat?
    Was, wenn er Fotos von den Leuten hatte, die an diesem Abend im Markveien 32 ein und aus gingen?
    Henning geht, so schnell er kann, nach Hause. Er setzt sich an den Küchentisch und wählt die Nummer von Tore Pullis Witwe Veronica Nansen, die sich freut, von ihm zu hören. Und obgleich Henning sie am liebsten sofort ins Kreuzverhör nehmen würde, geht er auf ihr freundliches Geplänkel ein. Immerhin ist es erst wenige Wochen her, dass sie ihren Gatten zu Grabe getragen hat.
    »Es geht mir den Umständen entsprechend ganz gut«, sagt Veronica.
    Henning kann sich nicht länger beherrschen. »Der Grund meines Anrufs ist eigentlich ein anderer. Ich muss Sie unbedingt etwas fragen. Soweit ich es verstanden habe, waren Sie die Fotografin im Haus. Aber Tore hatte nicht zufällig eine eigene Kamera?«
    Es ist einen Augenblick still am anderen Ende.
    »Doch«, sagt sie schließlich, und das Zögern in ihrer Stimme ist unüberhörbar. »Ja, er … hatte eine Kamera.«
    »Er hatte …?«, setzt Henning nach.
    Veronica seufzt. »Letzte Woche ist bei mir eingebrochen worden. Ein Teil meiner Fotoausrüstung wurde entwendet. Und Tores ebenfalls.«
    Henning springt auf.
    »Ziemlich gruselig, das Ganze«, redet sie weiter.
    »Haben sie noch etwas anderes gestohlen?«, fragt Henning außer Atem.
    »Na ja, dies und das, Kleinkram halt.«
    »Und die Polizei hat die Täter nicht gefasst?«
    »Die Polizei? Ich hätte es um ein Haar überhaupt nicht zur Anzeige gebracht. Um solche Sachen kümmern die sich doch nicht.«
    Nein, denkt sich Henning. Wahrscheinlich nicht.
    »Wissen Sie, ob Fotos auf Tores Kamera waren?«
    »Ja, Urlaubsbilder und so was, nehme ich an. Warum fragen Sie?«
    Henning ist kurz davor, ihr die Zusammenhänge zu erklären, lässt es dann aber doch bleiben. »Wissen Sie, ob er die Bilder irgendwo gesichert hat?«
    »Wir haben regelmäßig Back-ups gemacht, aber ausgerechnet die CDs haben sie auch mitgenommen. Das ist wirklich bitter. Mein ganzes Leben mit Tore war auf diesen CDs .«
    »Verstehe«, sagt Henning resigniert. Auch wenn sein Mitleid in diesem Augenblick nicht ihrem Verlust gilt. Er kann nur an seinen eigenen denken. So nah dran und doch so weit entfernt. Denn er weiß ohne den Hauch eines Zweifels, dass die Bilder für immer verloren sind.
    Doch als dieser Gedanke erst einmal gedacht ist, ist es nicht mehr weit bis zum nächsten. Ist dies die Information, die aus dem Indicia-Bericht gelöscht wurde? Dass Tore Pulli mit einer Kamera vor dem Wohnhaus saß? Die Information, derentwegen Andreas Kjær bedroht wird?

SAMSTAG
    94
    Graue Wolken ziehen über den Himmel, als Henning am Morgen beschließt rauszugehen, um seinen Kopf zu lüften. Seit dem gestrigen Abend hat er mehr oder weniger ausschließlich auf dem Sofa gelegen und nachgedacht. Ab und zu ist er aufgestanden und durchs Zimmer getigert, ehe er weitergegrübelt hat. Am Ende war er kurz davor durchzudrehen.
    Auch deshalb hat er sich die kalte Cola geholt und ist zu seinem Stammplatz im Dælenenga geschlendert. Er denkt an Jonas und an die Spuren, die sich unmittelbar vor seiner Nase in Luft auflösen, sobald sie in greifbare Nähe rücken. Womöglich war Tore Pulli im Besitz des Fotobeweises und wusste, wer an jenem Abend in Hennings Wohnung war. Aber das alles ist jetzt weg. Und irgendjemand mit osteuropäischem Akzent macht sich die Mühe, Andreas Kjær zum Schweigen zu bringen – was auch immer er wissen mag. Falls Hennings Vermutung über den manipulierten Indicia-Bericht stimmt, könnte es sogar sein, dass genau dies die Informationen sind, von denen Kjær Kenntnis hat. Dass Tore Pulli Fotos desjenigen besaß, der das Feuer in Hennings Wohnung gelegt hat.
    Henning ist klar, dass das weit hergeholt ist, aber im Moment greift er nach jedem noch so dünnen Strohhalm. Und wieder irritiert es ihn maßlos, dass er sich nicht an die letzten zwei, drei Wochen vor dem Brand erinnern kann. Er weiß nur noch, dass auf dem Zettel, der an jenem Tag an seiner Wohnungstür gepinnt war, stand: ERSTE UND LETZTE WARNUNG . Aber wovor wollte der Zettel ihn warnen? Warum ist es ihm nicht möglich, sich zu erinnern?
    Sein Körper neigt
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