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Verirrt in den Zeiten

Verirrt in den Zeiten

Titel: Verirrt in den Zeiten
Autoren: Oswald Levett
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Wahrheit des von mir vorgelegten
Berichtes negiert, finden sich Anhaltspunkte genug.
    Erasmus Büttgemeister war zweifellos nicht nur ein hochbegabter,
sondern auch ein übernervöser Mensch. Schon das
Charakterbild des Knaben weist Züge auf, die der Arzt als
neuropathisch bezeichnen müßte: das Sprechen aus dem
Schlafe, die bunten Träume, das Übergreifen des Traumlebens
in seinen Wachzustand. All dies wissen wir nicht nur von seiner
Mutter, sondern von ihm selbst.
    Dieser überbegabte, überempfindliche, in sich versponnene
junge Mensch, dessen Kindheit in Wohlstand geborgen, von
liebenden, gebildeten Eltern sorglich behütet war, er wird von
einem schweren Unglück betroffen, von dem gewaltsamen
Tode seiner über alles geliebten Braut. Der Schicksalsschlag
scheint auf das allzu empfängliche Gemüt Erasmus Büttgemeistersgeradezu verheerend gewirkt zu haben, dermaßen,
daß sein Geist getrübt wurde. Das Volk würde sagen: Er
wurde vor Kummer wahnsinnig.
    Der durchschnittlich veranlagte Mensch mag unter einem
solchen Schmerz zusammenbrechen und sich erst nach
schwerem Siechtum wiederfinden. Er wird vielleicht, wenn
der Verlust den Lebenswillen überwiegt, zum Selbstmord
greifen. Aber er wird sich nicht dem irren Wunsche hingeben,
die Tote noch auf Erden wiederzusehen. Dieser Wunsch an
sich kennzeichnet sich als Manie.
    Das klinische Bild wird nicht nur durch Erasmus’ Mutter
bestätigt, welche berichtet, daß er seit Agathes Tod immer
»schrullenhafter« wurde, es wird auch auf das treffendste ergänzt
durch ein charakteristisches Symptom: die Amnesie.
    Während wir zuvor, da wir von der Wahrheit der Erzählung
ausgingen, die Erinnerungslücke, das Nichtwissen von
den Einzelheiten der Erfindung, nur zögernd als einen Notbehelf
hinnehmen mußten, fügt sie sich jetzt nicht nur ungezwungen,
sondern geradezu zwangsläufig in den Rahmen des
Krankheitsbildes.
    Der Schmerz um den Verlust der Geliebten, die Sehnsucht
nach ihr wird im zerrütteten Gemüt Erasmus Büttgemeisters
zur überwertigen Idee, zum Wahn. Mag der Ausdruck dieses
Schmerzes erhaben sein, mag der Versuch, die Zeit zu überwinden,
titanisch scheinen — es bleibt ein Wahn.
    Auf dem Wege seiner Diagnose findet der Psychiater einen
merkwürdigen Wegweiser: die Stelle aus Maupassant in der
Handschrift. Es ist kein bloßer Zufall, daß es just Maupassant
ist, jener Dichter, der selbst dem Wahnsinn verfiel, und daß
gerade jene Worte zitiert werden, welche der Dichter einen
Irren sprechen läßt. Der manische Wunsch eines Besessenen,
erträumt von einem wahnverfallnen Dichter — sie sind das
Leitmotiv für den verstörten Sinn Erasmus Büttgemeisters,
ihre »liebliche Musik bleibt ihm unauslöschlich im Gedächtnis«.
    Aus der Wirklichkeit, die ihm unerträglich wird ohne denBesitz Agathes, flüchtet sein verwirrter Geist in das Reich der
Träume. Und Träume sind Wahn. Die Wirklichkeit wird ihm
unverständlich und unerinnerlich. Darum breitet sich über
sein äußeres Leben das Vergessen »wie Nebelschleier über
einer Landschaft«, und es sind nur seine Träume, die »aus jenem
Nebelmeer in vielfarbigem Glanze leuchten«. Darum
seine erschütternde Frage: »Wo ist Wirklichkeit, wo ist Erwachen?
Was ich jetzt durchlebe, ist’s ein Traumbild oder Wachen?
Wann, wann denn werde ich erwachen?«
    Nein, nirgend ist da Wirklichkeit, ein Traum ist alles. Über
die grausame Wirklichkeit, über Not, Verlassenheit, die
Sehnsucht nach der verlorenen Geliebten, über seine ehrgeizigen
Erfinderpläne, über all seine unerfüllten Wünsche täuscht
er sich hinweg und gaukelt sich Erfüllung vor: die weltbewegende
Erfindung, den stolzen Flug ins siebzehnte Jahrhundert,
das Wiederfinden der Geliebten.
    Aber mitten im Tumulte seiner wildbewegten, bunten
Träume ertönte noch wie aus weiter Ferne die Stimme der
mahnenden Vernunft. Sie erinnert daran, daß die Zeit nicht
zu besiegen ist, daß wir einen Toten auf Erden nicht wiedersehen
können. Darum malt er in seinen Träumen nicht nur die
Erfüllung seiner unerfüllten Wünsche, sondern — seltsames
Widerspiel — er tröstet sich zugleich über die Unerfüllbarkeit
der Wünsche, indem er die Erfüllung zur Verdammnis werden
läßt.
    Darum läßt er die wiedergefundene Agathe durch eigene
Hand sterben, ihn selber hassend, darum müssen alle seine
Werke vernichtet werden und er selbst zerschellen.
    Nun hebt der eine Traumestrostspruch den andern gleichsam
auf. Seine Träume sagen ihm: Wir trösten dich über
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