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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition)
Autoren: David Sieveking
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Tod ihrer demenzerkrankten Mutter vor zehn Jahren selber Angst, Alzheimer zu bekommen und hoffte, das Extrakt aus den Blättern des Ginkgo-Baumes könne einem solchen Schicksal vorbeugen.
    Doch trotz dieses ›Gehirn-Dopings‹ fiel es meiner Mutter ein halbes Jahr nach ihrem Geburtstag schwer, dem Vortrag bei der Verabschiedung meines Vaters zu folgen. Malte hatte im Sommer 2005 seine letzte Vorlesung als Mathematik-Professoran der Goethe-Universität in Frankfurt am Main gehalten und wurde nun Ende des Jahres feierlich pensioniert. Der Seminarraum war dicht gefüllt, und ein Kollege gab nach einer Begrüßung ein paar biografische Hinweise – als Statistiker hielt er sich streng an Zahlen und Fakten: »1940 geboren in Hamburg, Volksschule in Hamburg ’46–’52, dann altsprachliches Gymnasium ’52–’57 ebendort, anschließend Gymnasium Berlin Steglitz mit Abitur 1959 ...«
    Ich stand ganz hinten im Raum, schräg hinter meiner Mutter, die in der letzten Stuhlreihe saß, und wunderte mich, dass sie sich laufend Notizen machte, wie eine fleißige Studentin. Um sie herum hörten die anderen dem Vortrag mehr oder weniger aufmerksam zu. Mittlerweile hatte ein anderer Freund und Kollege meines Vaters das Wort übernommen, der mit ihm in den 70er-Jahren in Zürich an der Uni gearbeitet hatte. Unter dem Titel ›Sievekings Beitrag zur Algorithmik‹ erklärte er, welche Ideen meines Vaters in der Informatik eine Rolle spielten. Seinen Ausführungen konnten aber nur Leute vom Fach folgen, der Rest verstand nur Bahnhof. Trotzdem machte sich meine Mutter weiterhin intensiv Notizen. Ich machte neugierig einen Schritt auf sie zu und versuchte, über ihre Schulter zu blicken. Vor ihr lagen drei Zettel, von denen schon zwei komplett gefüllt waren. Was in aller Welt schrieb sie sich da so konzentriert auf während dieses unverständlichen Vortrags, in dem es nur noch um abstrakte Formeln ging? Ich konnte es aus der Entfernung nicht erkennen.
    Der abschließende Beitrag kam von Ulli, einem Studienfreund meines Vaters, mit dem er 1965 in Hamburg sein Diplom gemacht hatte. Damals galt Malte als ›Genie‹ aus gutem Haus, während sein Kommilitone den Ruf eines mathematischen ›Rockers‹ hatte. Ulli strich sich zu Beginn seines Vortrags die halblangen Haare aus der Stirn, schaltete den Overheadprojektor ein und legte seine erste Folie auf, die eine
    Widmung trug: Für Malte Sieveking, Mathematiker, Philosoph, Freund. »Das Besondere an ihm ist, dass er nicht im typischen
     Muster denkt«, begann er. »Man redet mit ihm über A und er kommt mit B. Und wenn man dann über B sprechen will, bringt er plötzlich C rein. Das findet man
     im ersten Moment vielleicht doof, aber dann stellt sich raus, dass das gar nicht so blöd ist.« Er berichtete, wie mein Vater im Bereich angewandter
     Mathematik geforscht und mit Chemikern und Ökonomen zusammengearbeitet hatte. Ulli schlug meinem Vater vor, nach seiner Pensionierung zusammen mit ihm
     über ›Konvergenz‹ zu forschen, beispielsweise zu untersuchen, wie sich eine kollektive Meinung während einer Konferenz bildet. Er begann dann diese
     spezifische Fragestellung der Schwarm-Theorie auszuführen, und auch dieser Vortrag wurde für Nicht-Mathematiker unverständlich. Gretel schrieb aber immer
     noch fleißig irgendetwas mit. Ich trat jetzt ganz nah an sie heran und reckte meinen Hals. Gerade war sie dabei, auf den dritten Zettel ein seltsames Tier
     zu zeichnen, eine Art Nasenbär, neben den sie n=3 geschrieben hatte (dies war unter den Gleichungen vorgekommen, die Ulli gerade an die Wand
     projiziert hatte). Auf dem zweiten Zettel umrankte ein kryptisches Netzwerk aus Punkten und Linien die Worte Mathematiker, Freund und auf dem
     ersten Zettel hatte sie notiert: ’ 63 Vordiplom, ’65 Hauptdiplom in Hamburg . Was ging in ihrem Kopf vor? Hatte sie vergessen, wo ihr Mann sein Diplom gemacht hatte?
    Hamburg war Gretels Traumstadt: Hier hatte sie ihre erste eigene Wohnung gehabt, neben dem Studium ihren Lebensunterhalt verdient und meinen Vater kennengelernt. Die Liebesgeschichte meiner Eltern in den Swinging Sixties stellte ich mir wie einen coolen Nouvelle-Vague-Film vor. Auf den Fotos von damals sehen die beiden wie ein verwegenes Paarin einem Schwarzweiß-Kultfilm aus: Gretel ein existentialistischer Vamp im Juliette-Greco-Look, daneben mein Vater als schelmischer Alain-Delon-Verschnitt. Von ihren Kommilitoninnen wurde Gretel die ›Schaufrau‹ genannt, in Anlehnung an ihren
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