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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung
Autoren: Tanja Kinkel
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sich vielleicht um die Appiani aus dem Bankwesen handele, lächelte er bitter und erwiderte: »Nein, Signora, das erste nennenswerte Geld, das meine Familie je verdient hat, verdankte sie meiner … Stimme.«
    Lucia errötete und wechselte sofort das Thema. Als Angiola ihre Mutter später fragte, was denn schändlich daran sei, dass Appianino derjenige war, der seiner Familie zu Vermögen, Ruhm und Ehre verholfen habe, erklärte ihr die Mutter unter einigem Gestammel, dass viele arme Familien ihre Söhne regelrecht verkauften, angeblich an die viertausend Knaben im Jahr, in der Hoffnung, dass nach einer Kastration große Sänger aus ihnen würden, und wenn nicht das, wenn Stimme und Talent nicht dazu reichten, dann wenigstens Musiklehrer, was ebenfalls ein gesichertes Einkommen bedeutete. Wenn also Appianinos Familie kein Vermögen besessen habe, dann sei es gewiss, dass es sich bei ihm um einen solchen Fall handele.
    »Wäre er nicht bei uns eingezogen, dann wären wir jetzt auch arm«, sagte Angiola. »Wenn ich ein Junge wäre, würden Sie mich dann kastrieren lassen, Mama?«
    »Rede keinen Unsinn«, sagte Lucia indigniert und rauschte davon, um mit ihren nunmehr für kurze Zeit gesicherten Einkünften neue Handschuhe zu kaufen, feine, gegerbte Handschuhe aus dem zarten Leder der Haut eines ungeborenen, im Mutterleib gestorbenen Kalbs, auf die sie schon zu Lebzeiten ihres Gemahls ein Auge geworfen hatte, und echte Pomade. Die Zeit, in der sie Ziegenfett mit Wachs hatte mischen müssen, um zu sparen, war vorerst vorbei.
    * * *
    Angiola hörte Appianino gerne beim Üben zu. Zunächst tat sie das in der Erwartung, Lieder aus dem Theater zu hören, aber bald merkte sie, dass ein Sänger seine Stimme anders geschmeidig hielt. Er sang und hielt vielmehr einzelne Noten, als dass er zusammenhängende Lieder von sich gab. Es klang eher, dachte Angiola, wie das, was ein Vogel auf den Ästen tat, und hatte etwas Magisches an sich. In ihrem Zimmer versuchte sie, ebenfalls eine einzelne Note sehr lange zu halten, doch es stellte sich als unendlich schwieriger heraus, als sie es sich vorgestellt hatte. Es musste irgendein Geheimnis darin liegen. Schließlich fasste sie sich ein Herz und suchte Appianino in dem Zimmer auf, das er für seine Übungen in Beschlag genommen hatte. Diesmal küsste er ihr nicht die Hand, vielmehr war er ungehalten darüber, unterbrochen worden zu sein. Bis sie ihren Grund offenbarte. Er hob eine Augenbraue.
    »Aber warum wollen Sie das wissen, Signorina? Was nützt es Ihnen?«
    »Ich möchte es eben können.«
    »Bei der Gesangskunst handelt es sich um keinen Zeitvertreib für Kinder«, sagte er abweisend. »Es handelt sich um mein Leben.«
    Damit wandte er ihr den Rücken zu, setzte sich wieder an das Reisespinett, das er mitgebracht und in ihrem Haus aufgebaut hatte, schlug eine Taste und versuchte, den gleichen Ton zu treffen, sie ignorierend, als befände sie sich nicht mehr im Raum. Angiolas schüchterne Neugier verwandelte sich in etwas anderes, Heftiges, in Enttäuschung und Ärger. Dabei schmerzte ihr Bauch, etwas zog in ihrem Inneren, sie schwitzte, obwohl es eigentlich noch kühl war; sogar ihr Kopf tat weh, und sie wusste nicht genau, was sie wollte, nur, was sie nicht wollte, und das war, einfach so von ihm als Kind entlassen zu werden. Sie öffnete den Mund, um laut zu sagen: »Sie haben selbst bestätigt, dass ich kein Kind mehr bin«, holte dann tief Luft und stieß mit aller Kraft, zu der sie fähig war, den gleichen Ton wie er hervor.
    Lächerlicherweise ging ihr bald die Luft aus. Sie spürte Schweißperlen am Rücken und auf der Stirn und kam sich nun doch kindisch vor. Appianino sang immer noch, aber er drehte ihr nicht länger den Rücken zu, sondern schaute sie an. Nicht höhnisch, aber auch nicht freundlich, sondern neugierig. Endlich ließ er seinen Ton verklingen und sagte: »Ein Sänger, mein Kind, singt aus dem Zwerchfell.«
    »Was ist das Zwerchfell?«, fragte sie, kam sich dumm und unwissend vor und wusste nur, dass dieses Gefühl noch ärger werden würde, wenn sie nicht fragte.
    Er machte ein paar Schritte auf sie zu und an ihr vorbei. Sie befürchtete schon, dass er die Tür öffnen würde, um sie hinauszuwerfen. Doch nein, er trat nur hinter sie.
    »Heb die Arme«, sagte er. »Seitwärts.«
    Angiola gehorchte, und er legte eine Hand auf ihren Bauch, die andere von hinten auf ihre Taille. Mit der vorderen übte er einen leichten Druck aus, und etwas in ihr, das
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