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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung
Autoren: Tanja Kinkel
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entfernt, aber die Gassen waren viel, viel enger, fand Angiola, während sie sich ihren Weg durch die Via dell’ Inferno bahnte. Die Juden durften keine neuen Häuser bauen oder sich außerhalb des Ghettos Ebraico ansiedeln. Daher drängten sich mehr Menschen auf kleinem Raum als in jedem anderen Teil Bolognas. Nirgendwo gab es Arkaden, die vor Sonne und Regen schützten, wie sonst überall in der Stadt. Angiola war nicht groß für ihre fast dreizehn Jahre, und es fiel ihr nicht leicht, sich mit ihrer Bürde einen Weg durch die Menge zu bahnen. Ihre Mutter, die lieber gestorben wäre, als die Nachbarn wissen zu lassen, dass sie die Dienste eines jüdischen Pfandleihers in Anspruch nahm, der zu nur fünf Prozent lieh, hatte ihr einen viel größeren Korb gegeben, als nötig gewesen wäre, um den Atlasrock und die Samthose von Angiolas verstorbenem Vater darin zu verbergen. »Ich habe das gute Kind losgeschickt, um den Schwestern in San Giobbe Brot und Wein zu bringen«, hatte sie gezwitschert, als die neugierige Ceccha von nebenan sich zum Fenster hinauslehnte und ostentativ grüßte, während Angiola das Haus verließ. Ob die Nachbarin ihr das abgenommen hatte, blieb dahingestellt.
    Als Frau eines Universitätsbeamten war Lucia Calori angesehen gewesen, und das wollte sie nicht aufgeben. Sie wollte auch Bologna nicht verlassen oder in einem anderen Stadtteil eine billigere Wohnung nehmen. Also blieb nur, Stück für Stück zu versetzen, möglichst ohne dass es jemand merkte, nachdem das erwartete Erbe des Onkels aus Venedig ausgeblieben war, und darauf zu hoffen, dass die Universität von Bologna nicht zu schnell versuchte, einen anderen Beamten in ihrem gemieteten Haus unterzubringen. Bis dahin musste sie nach ehrlichen Untermietern Ausschau halten. Der erste Mann, dem Angiolas Mutter zwei Zimmer vermietete, hatte sich zwar als reicher Weinhändler ausgegeben, war aber nach einem Monat verschwunden, ohne einen einzigen Soldi Miete bezahlt zu haben. Und das auch nicht, ohne die kostbare Taschenuhr von Angiolas Vater mitgehen zu lassen. Es war ein bitteres Lehrgeld dafür gewesen, unbekannten Mietern zu vertrauen.
    Jetzt behauptete Angiolas Mutter natürlich, sie habe den angeblichen Weinhändler nie gemocht, doch Angiola wusste, dass dies nicht stimmte. Lucia hatte sich von dem Mann mehrfach trösten lassen, wenn der Gedanke an ihren Witwenstand sie in Tränen versetzte, und ihn wiederholt zum Essen eingeladen, nachdem sie ihre Tochter sehr früh ins Bett geschickt hatte. Deswegen hatte er die Uhr überhaupt stehlen können, da sie im Schlafzimmer in einer Schublade lag. Es war wohl so, dachte Angiola, dass man nicht unbedingt in einem Theater sein musste, um vorzugeben, jemand anderer zu sein, als man war. Wenn das der Vater gewusst hätte, dann hätte er ihr und der Mutter nicht ständig untersagt, den Straßenkomödianten zuzuschauen. Angiola vermisste ihren Papa, und wenn man die Mutter jetzt hörte, dann war der verstorbene Dottore Calori der beste aller Männer gewesen, ohne Fehl und Tadel, der Weib und Kind auf Händen getragen hatte. Aber das stimmte so nicht. Für jeden guten Tag, an dem der Vater sie in die Nase gezwickt und ihr von den Straßenverkäufern verzuckertes Mandelwerk mitgebracht hatte, hatte es auch einen schlechten gegeben. Dann warf er der Mutter vor, eine schlechte Hauswirtschafterin zu sein und durch ihre Tanzlust ihre ständigen Fehlgeburten verursacht zu haben, und versetzte seiner Tochter Ohrfeigen, nur weil er sie dabei ertappte, wie sie Lieder schmetterte, die sie irgendwo auf den Straßen gehört hatte, was oft genug vorkam.
    Angiola blinzelte ein paar Tränen weg und hob eine Schulter, um sich die Nase abzuwischen. Wenn sie ihren Korb jetzt absetzte, um die Hände zu gebrauchen, würde er in der wogenden Menge gewiss gestohlen werden. Und sie brauchten das Geld, unbedingt.
    Die Häuser im Ghetto waren genauso rot und gelb bemalt wie anderswo in Bologna, aber an vielen Türen erkannte sie Spählöcher, und das war ungewöhnlich. Die Leute hier mussten sehr misstrauisch sein. Auch die Tür des Hauses mit der Nummer, die ihre Mutter ihr eingeprägt hatte, besaß so ein Spähloch. Als sie den bronzenen Türöffner betätigte, um gegen das Holz der Pforte zu schlagen, glaubte Angiola bald zu spüren, wie sie jemand beobachtete.
    »Worum geht es, meine Kleine?«, fragte eine männliche Stimme von drinnen. Angiola räusperte sich und gab zurück, sie komme auf den Rat von Moise, dem
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