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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung
Autoren: Tanja Kinkel
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starren die Frauen an, vergessen teilweise sogar das Kauen und klatschen zum Ende des Tanzes so, wie Angiola es vorher bei den Sängern und Sängerinnen nie gehört hat.
    Dem Jungen neben ihr muss ihr etwas fassungsloser Blick aufgefallen sein. »Die Leute kommen zum Schauen her, nicht zum Hören«, meint er, was ihr aber keine wirkliche Erklärung ist. Er kann also doch sprechen! Ein hagerer Junge, der nicht so viel älter als sie sein kann, mit komischen Augenbrauen und einer laufenden Nase; seine Stimme klingt etwas heiser. Vielleicht ist er erkältet. Auf jeden Fall sagt er nicht mehr, und auf der Bühne wird geredet, nicht mehr getanzt oder gesungen. Da Angiola nicht weiß, wann es wieder Gesangsdarbietungen gibt, schaut sie ins Publikum, und es wird ihr mit einem Schlag bewusst, dass ihre Eltern sich bestimmt Sorgen um sie machen. Sie dreht sich um, sucht mit ihren Augen die Loge zu finden, wo ihre Eltern sitzen, entdeckt aber weder den Platz noch ein ihr bekanntes Gesicht. Sie spürt ein Stechen in den Augen und zieht die Nase hoch, um nicht vor all den fremden Leuten in Tränen auszubrechen. Das erregt die Aufmerksamkeit des Jungen. Er macht ein weiteres Mal den Mund auf und sagt: »Komm, ich helfe dir, deine Eltern zu finden.«
    Erleichtert erzählt sie ihm, dass sie bestimmt zwei Treppen hinuntergestiegen ist und oben die Loge schon finden würde. Sicherheitshalber packt sie ihn aber am Arm und lässt sich von ihm zu einer Tür ziehen, wo die Treppen beginnen.
    Die Türen der Logen gleichen einander von außen wie ein Ei dem anderen. Nun ist sie sich nicht mehr sicher, wo sie hergekommen ist. »Dann probieren wir es einfach aus«, ist die Empfehlung des Jungen, und er drückt die nächstbeste Klinke herunter.
    Angiola will schon hineingehen, als sie fast zu Eis erstarrt. Auf einer Bank kniet eine Nonne, zeigt einem hinter ihr stehenden Mann in einem Harlekin-Kostüm ihren nackten Hintern und lässt sich ihre Pobacken von ihm betasten. Dass beide Masken vor ihrem Gesicht haben, macht das Bild noch bizarrer.
    »Aber wieso spielen die beiden hier Doktor?«, will sie wissen und zeigt damit, dass ihr so etwas unter Kindern nicht ganz fremd ist.
    Der Junge schließt die Tür, obwohl sich die beiden Erwachsenen weder von ihren Blicken noch von ihrer Frage hatten stören lassen, und erwidert, ihr zugewandt: »Dummkopf, die spielen Liebeln, nicht Doktor.«
    »Aber das war eine Nonne, und die beiden hatten Masken auf«, argumentiert sie, weil sie keinesfalls zugeben will, dass sie nicht weiß, wie das Spiel Liebeln geht.
    »Das war bloß eine Frau im Nonnenkostüm, obwohl es hier in den Logen oft die Hälfte der Nonnen vom Kloster der Heiligen Jungfrau geben soll, sagt mein Vater. Aber die ziehen sich anders an. Und was die Masken betrifft, meine Mutter sagt, durch die Maske zeigt man ein Geheimnis und wird so immer umworben, weil jeden Mann das Geheimnisvolle reizt«, erklärt er ihr, als wäre es das Normalste von der Welt. Mit jedem Wort klingt seine Stimme weniger heiser und mehr, als wüsste er tatsächlich, wovon er redet, obwohl er doch nur wiederholt, was die Erwachsenen ihm erzählt haben. Der belehrende Tonfall macht das, entscheidet Angiola und merkt es sich, denn erwachsen klingen will sie auch, und der Junge kann höchstens acht Jahre alt sein, mehr nicht.
    Seine Erklärungen ergeben für sie nicht viel Sinn, aber das gibt sie nicht zu. Andererseits ist sie von Natur aus neugierig, also fragt sie zurück, was er mit »reizen« meint. Ein einziges Wort kann man hinterfragen, ohne als dumm dazustehen, findet sie.
    »Meine Mutter sagt«, fängt er wieder mit den gleichen Worten an, »wenn Menschen Masken tragen, seien sie sich sicher, über nichts erröten zu müssen, wären freier, und das würde Mann und Frau schneller zusammenführen als alle Begegnungen in der Kirche oder woanders. Außerdem wäre liebeln mit fremden Kavalieren, die schnell wieder gehen, einfacher als mit bekannten Leuten.« Je länger der Satz wird, umso unsicherer wird nun aber seine Stimme, und er macht irgendwie doch den Eindruck, als verstünde er nicht mehr ganz genau, was er ihr da sagt.
    Ehe Angiola hier einhaken kann, hören sie die schreiende Stimme ihres Vaters und darin ihren Namen.
    * * *
    »Meine Tochter!«, lamentiert Lucia auf dem Gang zwischen den Spieltischen, wo sie bisher vergeblich nach Angiola gesucht haben. Calori fragt sich, ob Gott ihm etwas über das Theater als solches und den Besuch desselben sagen will. Er
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