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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung
Autoren: Tanja Kinkel
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die Achseln. »Das findet ihr Gatte nicht. Und wen wundert’s? Der Casanova ist als Schauspieler längst nicht so beliebt wie sie. Er ist nur bei der Truppe, weil sie so großen Erfolg hat. Sie ist’s, die fast allein das Geld verdient.« Er kneift seine Schwägerin in die Wange und streckt gleichzeitig die andere Hand aus, um seiner Gemahlin den Hintern zu tätscheln. »Mir wär das auch recht. Vorige Woche hat sie durch ihre Geistesgegenwart sogar eine neue Komödie gerettet. Sie spielte eine Witwe. Die ganze Handlung war langweilig. Irgenwann rief jemand ihr zu: ›Für die Rolle hast du doch gar keine Erfahrung, Zanetta. Wie viele Ehemänner hast du denn schon gehabt?‹ Sie schrie zurück: ›Der Raum hier würde vielleicht gerade dafür reichen, um sie unterzubringen.‹ Dann lachte sie über die vielen Ohs, die aus dem Publikum kamen, und fügte unter dem gewaltig aufbrausenden Gelächter hinzu: ›Ach, du meintest meine eigenen Ehemänner; davon habe ich bisher nur einen.‹ Die Vorstellung war gerettet, aber so ist sie, unsere Zanetta.«
    Genug ist genug, denkt Calori und teilt seiner Gattin mit, man habe morgen eine lange Reise vor sich und müsse sich daher für die Nacht zurückziehen. Auf der Bühne hat inzwischen ein Duell angefangen, das von den Zuschauern mit Warnrufen und Beifall begleitet wird.
    »Aber …«
    »Basta«, donnert er, obwohl er nicht umhinkann, ein gewisses Schuldbewusstsein zu empfinden, als Lucia nun große Tränen die Wangen herunterrollen. Sie ist eben noch sehr jung, seine Frau. Man muss Nachsicht mit ihr haben. Aber man darf sie auch nicht zu vielen schlechten Einflüssen aussetzen.
    Wie gefährlich die schlechten Einflüsse sind, zeigt sich, als sein Blick seine Tochter sucht und sie nicht findet. Calori springt auf und besteht darauf, umgehend unter alle Stühle zu blicken, doch Angiola ist nicht mehr in der Loge.
    * * *
    Angiola ist fasziniert von dem Besuch in Venedig. Sie hat noch nie eine Stadt gesehen, wo die Straßen aus Wasser sind und nicht Kutschen, sondern Gondeln von Haus zu Haus benutzt werden. Die Gondelfahrt, den großen Kanal hinunter, war wie ein Vorbeigleiten an lauter Königsschlössern. Wenn einmal ein Fensterladen kurz zum Lüften geöffnet wurde, blitzte es wie Gold und Silber aus den Zimmern heraus. Schade, dass die Gondelfahrt dann so schnell zu Ende war. Sie hofft auf weitere und auf einen erneuten Besuch des Platzes, wo ihre Eltern mit ihr aus dem Schiff, das sie nach Venedig gebracht hatte, ausgestiegen waren; der Platz vor der großen Kathedrale, auf dem sich Menschen in prächtigen Kleidern tummelten, die häufig Masken trugen, genau wie die Theaterbesucher jetzt. Zu gerne hätte sie auch eine gehabt, denn so viele der Besucher hier bedecken damit ihr Gesicht oder doch zumindest die Augen. Was sie dann auf der Bühne sieht, sind Bilder wie aus einem der Märchen, die ihre Mama gelegentlich erzählt. Nur wäre es zu schön, auch alles zu verstehen, was bei dem vorhandenen Lärm aber unmöglich ist. Die Diskussion ihres Vaters mit dem Bäcker verschafft ihr überraschend die Gelegenheit, aus der Tür zu schlüpfen und sich einen Weg zur Bühne zu suchen. Bei den Sitzen ganz unten, bei den Musikern, hat sie einen Jungen erspäht und diesen um seinen Platz beneidet. Dort strebt sie hin.
    All die ausladenden Röcke und Überröcke, an denen sie sich vorbeidrängen muss, ersticken sie beinahe, doch sie erreicht ihr Ziel. Außer Atem lehnt sie sich an die vor der Bühne befindlichen Balustraden, als ihr einige Nussschalen auf den Kopf fallen. Mitleidig zieht der Junge sie zu sich, wo er, offenbar in einem toten Winkel für solche Attacken, den Platz eingenommen hat. Von dort bemerkt sie, dass es für die Leute hier unten nicht ungewöhnlich ist, von oben etwas abzubekommen. Ein nicht weit von ihr entfernt sitzender Mann hat wohl gerade etwas Feuchtes im Nacken gespürt und schimpft laut wie ein Marktschreier auf den Schuft, der seinen Kautabak einfach hinuntergespuckt hat. Wäre es für sie wichtig, Schimpfworte zu lernen, dann wäre hier der ideale Platz dafür.
    »Ich heiße Angiola, und du?«, spricht sie den Jungen stattdessen an und wundert sich, als sie keine Antwort bekommt. Ihr Helfer schaut auf die Bühne, wo die Frau, welche als Zanetta bezeichnet wird, gerade mit einigen anderen Frauen tanzt. Erstaunlicherweise hat der Tanz zu mehr Stille im Haus geführt als die Lieder vorhin, um die zu hören sie eigentlich herabgekommen ist. Die Leute
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