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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung
Autoren: Tanja Kinkel
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Familien, was bedeutete, dass jemand sie gemietet haben musste. Außerdem war die Tür nur angelehnt.
    Sie trat ein und stellte ihren leeren Korb ab. Dann zog sie ihre nassen Schuhe aus und war noch dabei, sie auf das Eisengestell zum Trocknen zu stellen, als ihre Mutter mit einem Fremden die Treppe herunterkam. Angiola blieb der Mund offen. Der Mann war sehr hoch gewachsen, größer als jeder andere, den sie bisher gesehen hatte, und wenn sonst große Männer lange Beine und einen kurzen Oberkörper hatten, so war bei diesem Mann auch ein langer Torso zu erkennen. Er wirkte sehr breit um die Schultern, wobei er sonst schlank gewachsen schien. Er trug einen eleganten roten Seidenrock, der denjenigen, den sie gerade beim Pfandleiher gelassen hatte, wirklich altmodisch aussehen ließ, und eine Perücke, was ebenfalls für Wohlstand sprach. Als er den Mund öffnete, erwartete sie seines großen Brustkorbs wegen unwillkürlich eine tiefe Stimme. So trafen seine ersten Worte sie völlig unvorbereitet, in einer Tonlage, die höher war als die ihrer Mutter.
    »Aber wen haben wir denn da?«, fragte der Fremde und musterte sie.
    »Das ist meine Tochter Angiola, Signore«, erklärte ihre Mutter hastig. »Es stört Sie doch gewiss nicht, in einem Haus mit einem Kind zu leben?«
    Allmählich ahnte Angiola, um wen es sich handeln musste. Es hatte Gerüchte gegeben, dass einer der großen Kastratensänger nach Bologna kommen würde, Caffarelli, Appianino oder Salimbeni, und die Oper lag nicht allzu weit von ihrem Haus entfernt. Aber wäre es nicht wahrscheinlicher, dass ein solcher Sänger bei einer der großen Familien der Stadt wohnen würde? Gewiss würden sie es sich als Ehre anrechnen, Zimmer in einem ihrer Palazzi zur Verfügung zu stellen. Sie wünschte, sie könnte sich in den Arm kneifen, um sicher zu sein, dass sie nicht träumte, aber das wagte sie nicht, jetzt, wo er sie betrachtete, der Fremde. Sein Kinn war bartlos und glatt, aber durchaus kräftig geformt, und seine Nase lang und gerade. In dem Halbdunkel des Treppenaufgangs kamen ihr seine Augen bald blau, bald schwarz vor. Mehr denn je fühlte sie sich wie eine halb ertrunkene Ratte aus einem Kanal, während er wie ein Prinz aus einer anderen Welt wirkte.
    »Aber Signora Calori«, sagte er, »es handelt sich hier doch nicht um ein Kind, sondern um ein bezauberndes junges Fräulein.« Damit ergriff er Angiolas Hand und führte sie flüchtig an seine Lippen, ohne sie jedoch zu berühren.
    »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Signorina.«
    Mit einem Mal fühlte sie sich nicht mehr ärmlich und beschämt, obwohl sie barfuß war und ihr immer noch das Wasser aus den feuchten Kleidern tropfte. Sie sank in einen Knicks, wie sie es vor Jahren bei jener schönen Dame in Venedig gesehen hatte, unter einem gemalten Sternenhimmel und auf Brettern, wo jede Schäferin in Wirklichkeit eine verwunschene Prinzessin war.
    »Auch ich bin hocherfreut«, erwiderte sie, weil es so in den Büchern mit Menschen aus besseren Kreisen stand, die sie und ihre Mutter hinter dem Rücken des Vaters gelesen hatten, der jedes Buch abgelehnt hatte, wenn es nur der Unterhaltung diente. Ganz konnte sie ihre Aufregung nicht verbergen, und ihre Stimme ging am Ende des Satzes in die Höhe, was ihre höfliche Erwiderung daher wie eine Frage nach seinem Namen klingen ließ.
    Er lächelte. »Appianino, stehe Ihnen zu Diensten.«

    Bei aller Aufregung darüber, eine Berühmtheit im Haus zu haben, hatte Angiolas Mutter ihre bitter erlernte Lektion nicht vergessen. Sie ließ sich vorab die Miete für zwei Monate bezahlen. Bei der Gelegenheit stellte sich heraus, dass der Sänger für das unglaubliche Honorar von 34000 Bolognesischer Lire für ein halbes Jahr in die Stadt geholt worden war. So viel verdiente ein Professor in zehn Jahren. »Ich habe in Wien für den Kaiser gesungen«, sagte Appianino sachlich. »Um eine solche Ehre aufzugeben, muss ein entsprechendes Gehalt geboten werden.«
    »Ich … wusste nicht, dass man als Sänger so gut bezahlt wird«, sagte Lucia Calori schwach.
    »Wenn man sich einen Namen gemacht hat«, entgegnete Appianino, und ein Schatten legte sich über sein Gesicht. »Nur dann.«
    Er kam genau wie Lucia und ihr verstorbener Gatte aus Mailand, aber das war auch alles, was ihre Herkunft gemeinsam hatte, wie Angiola bald herausfand. Seine Familie hieß natürlich nicht Appianino; er war als Giuseppe Appiani geboren worden, und als Lucia Calori höflich fragte, ob es
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