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Verdammt feurig

Verdammt feurig

Titel: Verdammt feurig
Autoren: Bettina Belitz
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nicht näher. Stattdessen rückte er wabernd in eine dunkle Ecke – mindestens zehn Meter von mir entfernt.
    »Du bist ein schlechter Schutzengel«, murrte ich abfällig. »Du hättest längst etwas unternehmen müssen.« War am Ende alles, was Leander über Vitus erzählt hatte, Blödsinn gewesen? Leander war schon ein schlechter Schutzengel, aber wenigstens hatte er hier, bei meinem Run, das Richtige getan. Er war da gewesen. Er hatte mir geholfen. Und ich war nicht gestürzt. Ich hatte mir nur die Hand ein wenig zerkratzt. Aber Vitus? Er entfernte sich, wenn es am gefährlichsten wurde. Warum tat er das nur?
    Und was würde geschehen, wenn ich jetzt losrannte wie bei meinem letzten Run? Würde Leander auch aus dem Nichts auftauchen? War er vielleicht schon hier?
    Plötzlich begriff ich, dass ich genau das wollte. Ich wollte, dass er in dieses Abbruchgebäude geflogen kam und mich aufhielt – oder mit mir zusammen über das Dach rannte und über die Geländer balancierte. Nicht Serdan, nicht Billy, erst recht nicht Seppo, sondern Leander.
    Meine Wut verwandelte sich mit einem Mal in Traurigkeit. Die Tränen liefen warm über meine Wangen und sickerten in meine Ohren. Ich legte den Kopf in den Nacken.
    »Ich laufe jetzt los, Leander!«, rief ich, und die Wände warfen mein Echo dumpf zurück. »Ich laufe los und springe aus dem Fenster auf den Balkon, wie beim letzten Mal! Hast du gehört? Hast du mich gehört!?«
    Mogwai war verstummt und auch Vitus regte sich nicht mehr. Geschah es schon? War Leander bereits hier und die Zeit stand still?
    Ich ging in die Knie und flitzte los, direkt auf das offene Fenster zu. Nichts stoppte mich. Nichts hielt mich auf. Nun, es konnte ja sein, dass er es heute spannend machte. Leander mochte es dramatisch. Ich hob ab, sprang auf die Fensterbank und holte Schwung. Ein flaues Gefühl schoss in meinen Magen und mein Herz fing an zu rasen. Kalter Schweiß trat auf meine Stirn. Ich stoppte mich selbst und blickte nach unten, doch mein Körper begann schon vorwärtszukippen.
    »Scheiße, verdammte Scheiße«, schrie ich und griff nach dem Fensterrahmen neben mir. Im letzten Moment konnte ich mich an den brüchigen, zerfressenen Backsteinen festhalten und meinen Schwung bremsen. Ich stand noch – schwankend, aber ich stand. Mein Atem ging keuchend. Schlotternd ließ ich mich auf die Fensterbank sinken und sprang rückwärts auf den Boden. Ich beugte mich ungläubig vor. Der Balkon war weg. Ich sah seine Trümmer weit unter mir auf dem Hof liegen. Wenn ich jetzt gesprungen wäre, hätte ich mich zu Tode gestürzt. Das war so sicher wie die Farbe Flamingo in Mamas Schminktäschchen.
    Und genauso sicher war, dass Leander nicht gekommen war. Er hatte sich immer in die Hosen gemacht, wenn ich auf Fensterbänke gesprungen war. Das konnte er nicht ertragen. Nein, Leander hatte mich im Stich gelassen.
    Und SpongeBob war zweifelsfrei der größte Versager unter sämtlichen Körperwächtern dieses Universums. Wo steckte er überhaupt?
    In der dunklen Ecke hing er nicht mehr. Auch über mir nicht. Nein, kein silbriges Flimmern im ganzen Raum. Mogwai quietschte, als ich ihn losmachte, und sprang freudig an mir hoch.
    »Komm, wir müssen meinen Schutzengel suchen.« Er wedelte mit seinem Knickschwänzchen und tapste schnüffelnd die Treppen herunter. Doch auch in den übrigen Stockwerken und vor dem Haus – kein Vitus. Ich setzte mich neben die Trümmer des abgebrochenen Balkons auf die Wiese und heulte. Ich musste heulen, sonst wäre mir schlecht geworden oder ich hätte rumgeschrien oder etwas anderes Dummes getan. Dann war es besser zu heulen.
    Als meine Knie sich etwas fester anfühlten, stand ich auf und lief runter ans Rheinufer. Bevor ich den Kiesstrand erreicht hatte, blieb ich stehen, weil ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Langsam drehte ich mich um.
    Es war Vitus. Er schwebte hoch über mir und seine Augen waren weit geöffnet. Er lächelte – ein mildes, weiches und gar nicht so amöbenmäßiges Lächeln. Nein, es sah sogar fast ein wenig stolz aus. Dann verschwand es so schnell, wie es erschienen war. Gleißend stieg er in den Abendhimmel auf, bis seine Gestalt immer blasser wurde und schließlich nicht mehr zu sehen war.
    Er hatte mich verlassen. Ich war frei.
    »Danke«, flüsterte ich und meinte nicht Vitus, sondern mich. Denn ich hatte plötzlich kapiert, dass ich mich selbst beschützt hatte. Mein Instinkt hatte mich vom Sprung abgehalten – in allerletzter
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