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Verdacht auf Mord

Verdacht auf Mord

Titel: Verdacht auf Mord
Autoren: Wahlberg
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hatte Angst. Er hatte Angst um sein Leben. Oder, genauer gesagt, vor dem Tod. Es war vollkommen normal, davor Angst zu haben.
    Trotzdem hatte er es bisher vermieden, sich der Wahrheit zu stellen. Dass etwas nicht war wie früher. Am allerwenigsten wünschte er es sich schwarz auf weiß. Die Aussage eines Arztes konnte sowohl Lebende als auch Tote verurteilen.
    Mit der Sturheit eines Toren klammerte er sich daher an die Illusion, dass er im Großen und Ganzen derselbe war. So hatte er sich einen Freiraum geschaffen und Zeit, sich zu gewöhnen und die Ohnmacht auf Abstand zu halten. Er hatte eine zufrieden stellend funktionierende und unauffällige Strategie entwickelt nachzufragen, wenn er etwas nicht verstanden hatte. Oder fiel es doch auf?
    Plötzlich fühlte er sich besser und merkte, wie er sich nach Nina sehnte. Ihre kantige Silhouette – sie war immer mager und geradezu flachbrüstig gewesen – ließ sich hinter einem rotgesichtigen Mann weit hinten zwischen den Regalen mit den Rot- und Weißweinen erahnen. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Irgendetwas nistete dort gewiss in seinem Kopf. Bohrte sich hinein. Keimte. Wurde vielleicht so groß wie …
    Er wagte nicht, daran zu denken. Wollte weder an Pingpong- noch an Tennisbälle denken.
    Makaber.
    War er bereits vom Tod gezeichnet? Von einer solchen Geschwulst befallen, wie niemand sie zur Kenntnis nehmen, geschweige denn im eigenen Körper haben wollte? So entsetzlich, dass sich das Wort weigerte, in seiner Vorstellung aufzutauchen.
    Stur dachte er jetzt nur noch an weitaus trivialere Dinge. Beispielsweise daran, dass er die Teerpappe auf dem Dach des Sommerhauses erneuern und die Nachbarn zu Hause in Oskarshamn daran erinnern musste, den Rasen mindestens einmal in der Woche zu mähen, falls es regnete, und dass er für die Kinder, die schon nicht mehr zu Hause wohnten, ein Gästehäuschen bauen musste, weil diese inzwischen im Sommer mit Freund oder Freundin zu Besuch kamen. Seine Baupläne waren mittlerweile so weit gediehen, dass er beschlossen hatte, den Kommentar des neuen Nachbarn zu ignorieren, der gemeint hatte, man möge es doch bitte unterlassen, die Grundstücke mit allzu vielen Schuppen »zu verschandeln«. Dieser neue Nachbar konnte ihn mal!
    Mit anderen Worten: Es gab einiges zu tun. Er hatte noch so unendlich viel vor.

    Eine gute Stunde später waren sie mit einem Einkaufswagen auf dem Weg zum Parkplatz. Nina hatte nach geraumer Zeit für die Flasche Baileys bezahlt, derentwegen sie noch einmal in den Spirituosenladen zurückgekehrt war, damit sie am Mittsommerabend etwas zum Kaffee anbieten konnten. Schließlich sollte es auch für die Damen etwas geben. Dann mussten sie bei Coop noch Servietten und ein paar andere Kleinigkeiten kaufen. Jan Bodén war seiner Frau wie ein willenloser Hund gefolgt. Erfreulicherweise hatte er sich wieder unter Kontrolle gehabt, obwohl er sich an dem roten Plastikgriff des Einkaufswagens hatte festklammern müssen.
    Als sie fast bei ihrem Saab angelangt waren, legte Nina ihre Hand auf seinen Unterarm.
    »Was ist mit dir?«
    Ihre Stimme klang fast zärtlich.
    »Was soll schon sein … warum fragst du?«
    »Du wirkst so abwesend.«
    Ach wirklich?, dachte er und versuchte erstaunt auszusehen.
    Gleichzeitig erwog er, es ihr zu erzählen. Das würde ihn entlasten. Er würde seine Bürde mit Nina teilen. Ihr näherkommen.
    Er wandte sich ihr zu und nahm Anlauf.
    Nein, entschied er dann abrupt. Noch nicht. Sie wirkte so verdammt selbstbewusst. Sie hatte sich von ihm abgewandt und lächelte zufrieden zur mittelalterlichen Stadtmauer mit ihren Befestigungstürmen hinüber. Ganze sechsundzwanzig von den einmal neunundzwanzig waren noch erhalten. Das wusste er- trotz seines angeknacksten Zustands. Nicht zuletzt stellte diese Mauer, die sich friedlich nach Norden in Richtung Nordergravar erstreckte, ein Weltkulturerbe dar. Sie war die besterhaltene Stadtmauer Nordeuropas.
    Er betrachtete, was vor ihm lag: eine mittelalterliche Welt aus Ockertönen, Grau und Ziegelfarben hinter einer soliden Kalksteinmauer. Die drei schwarzen, hölzernen Turmspitzen des Doms ragten auf wie die Ohren eines wachsamen Kaninchens. Einiges überdauerte, stellte er fest. Das leicht salzige Wasser der Ostsee ließ sich im Hintergrund erahnen. Der Himmel war von unschuldigem, klarem Blau.
    Mittsommer. Die Sonne würde noch lange am Himmel stehen. Sie würde sich nur kurz hinter dem Horizont verstecken und in allerfrühester
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