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Venice Beach

Venice Beach

Titel: Venice Beach
Autoren: P Besson
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also tun? Sich lieben. Für die Zeit, die uns gewährt wurde und deren Ende wir nicht kannten. Sich lieben, in Kenntnis des Ausgangs, aber nicht der bewilligten Frist. Diese achtundvierzig Stunden waren auf ihre Art die schönsten in meinem Leben.
     
    Und wie soll ich die Sanftheit schildern? Wie die Zartheit und das Zögern? Man benötigte zweifellos Worte, über die ich nicht verfüge, Ausdrücke, die mir fehlen, Bilder, die ich nicht malen kann, treffende Adjektive. Man benötigte vor allem Schweigemomente, wortlose Geständnisse, jene Kleinigkeiten, die alles bedeuten. Man müsste jedem Verstehenwollen, jeder Absicht abschwören, um alles nur im Affekt nachzuempfinden, nachzuerleben. Man dürfte auch keine Angst vor einem Mangel an Schamgefühl haben oder aber einen Weg finden, sich, ohne schamlos zu sein, zu erkennen zu geben, sich zu stellen. Ich habe hier die drastischen Momente geschildert, die hungrigen, dargebotenen, erschöpften Körper, ich habe die beißenden Münder, die erregten Hände, die verschmelzende Haut, die sich verknotenden Arme, die stoßenden Lenden, die eindringenden Geschlechtsteile geschildert, ich habe dies ohne Tabu, ohne Rücksichtnahme getan, damit man die Raserei versteht, ich leugne nichts, ich würde diese Dringlichkeit, diese Notwendigkeit auf dieselbe Weise wieder beschreiben, aber hier, in den Stunden in Venice Beach, handelte es sich um etwas anderes, das vielleicht mit Gnade und Verzweiflung zu tun hat.

 
    Und nun muss ich von dem Augenblick sprechen, den Jack gewählt hat, um zu gehen. Und ich muss gestehen, dass mich seine unglaubliche Vorahnung Monate später noch immer beschäftigt. Dass mich der zeitliche Zusammenfall des Eintreffens der Polizei und seines Todes noch immer schaudern lässt.
     
    Es war am Nachmittag des zweiten Tages, um die Zeit, wo es kühler wird und die Leute sich allmählich überlegen, den Strand zu verlassen, aber es ist noch nicht Abend, in der Luft hält sich irgendetwas Süßes, der Pazifik scheint sich ein wenig zu beruhigen, diese Augenblicke der Schwebe bevorzuge ich. Wir hatten uns in die Laken gerollt, Jacks Hand wanderte langsam über meinen Oberkörper, sein Kopf lag neben dem Kissen, der Ventilator verteilte eine schwüle Hitze. Wir bemühten uns zu vergessen, was uns bevorstand, wir redeten fast nichts mehr, wir hatten die schönste jeder möglichen Ruhe erlangt, hatten die Kapitulation der Selbstmörder erreicht. Jack hat sich aufgerichtet, hat mich lange mit einem halben Lächeln angesehen, in Wirklichkeit schrieb er mein Gesicht in sein Gedächtnis ein, ohne dass ich es bemerkte, er sagte nur: »Ich werde ein Bad nehmen, schlaf ein wenig, wenn du willst.«
    Ich bin sicher, dass er keinerlei Feierlichkeit in diese wenigen, beiläufigen Worte hat einfließen lassen, er wusstegenau, dass es die letzten waren, er hat keine Anspielung darin untergebracht, er wollte mir nicht Adieu sagen, er ist auf leisen Sohlen gegangen, ohne Drama, ohne herzzerreißenden Abschied. Im Nachhinein bin ich ihm dankbar dafür. Er hat ein theatralisches oder chaotisches Ende in Form eines Zusammenbruchs vermieden. Er hat mir böse Erinnerungen erspart.
     
    Ich hörte, wie das Wasser in die Badewanne floss, die Müdigkeit hat über die Wachsamkeit gesiegt, und ich bin eingeschlafen. Vielleicht eine Stunde später haben mich die Polizeisirenen schlagartig aufgeweckt. Sie brachen über unser Versteck herein, über uns herein, und sie heulten unter uns. In einer Sekunde rissen sie mich aus der Feuchtigkeit des Schlafs. Ich dachte: »Nun ist es zu Ende, wir werden nicht weitergehen.« Ich dachte an Butch Cassidy und Billy the Kid. Ich machte einen Satz aus dem Bett und rannte zum Badezimmer. Als ich die Tür aufstieß, sprang mir das Rot in die Augen.
     
    Jack schlief in dem von seinem Blut rot verfärbten Wasser, der Kopf hing über dem Rand. Ich habe ein Rasiermesser auf den schwarz-weißen Fliesen liegen sehen. Ich habe mir die an den Handgelenken durchtrennten Adern vorgestellt. Jack hatte einen merkwürdig friedlichen Gesichtsausdruck. Und jenes leichte Lächeln, das er mir gezeigt hatte, als er mich verließ. Ich hatte nicht die Zeit, zu ihm hinzugehen. Die Polizisten haben mich festgehalten und mir im Rücken Handschellen angelegt.
     
    All dieses Rot. Kann man es eines Tages vergessen, all dieses Rot?

 
    Jetzt, wo er gegangen ist, gibt es zwei oder drei Dinge, über die ich Gewissheit erlangt habe.
     
    Wir hätten uns nie begegnen dürfen. Man
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