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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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oder ich drehte mich herum und setzte mich auf, um einen Schluck Bier aus den Dosen wegzuknallen, die wir mitgebracht hatten, denn natürlich konnte man an einem solchen Tag nicht ohne Erfrischungen lernen.
     
    »Es ist halb drei«, sagte ich.
    »Scheiße«, sagte Jack. »Wie lange sind wir schon hier?«
    »Ein paar Stunden«, sagte ich. »Nicht lange.«
    Ich griff nach meiner ›Norton Anthology of Poetry‹, die mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten neben mir lag, warf einen Blick hinein, schloss sie wieder und legte sie neben Jacks John-Maclean-Biographie.
    »John Maclean. Was? Wie in ›Stirb langsam‹?«, hatte Puck gesagt.
    »Das ist der Begründer des schottischen Sozialismus, du Hungerleider.«
    Jack hatte den Kopf geschüttelt.
    Von all den Studenten, die auf der Wiese faulenzten und lachten, im Kreis beieinander saßen, im Schneidersitz auf den Blöcken, von belegten Broten, Dosen, Zigaretten- oder Tabakpäckchen umgeben, war keiner ernstlich bei der Arbeit. Es waren Osterferien; uns standen Prüfungen bevor, und zwar bald, aber wir hatten das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben.
    Ich sah zu Jack und Puck hinunter; Jack hatte die Hände unter dem Kopf verschränkt, Puck lag im rechten Winkel zu ihm, den Kopf auf Jacks Bauch, einen Arm über seine Brust gelegt – seine Finger strichen ihm sanft über die Rippen – und den anderen zur Seite hin ausgestreckt, eine Zigarette zwischen den Fingern. Rauch stieg von ihrem Ascheturm auf wie träger, feierlicher Weihrauch, stieg auf in die stille, tiefblaue Luft.
     
     
    Kanten und Kurven
     
    Ich blätterte weiter bis zu den Seiten vier und fünf. Ein Stadtplan. Wieder hatte sich der Maßstab verändert, um eine Größenordnung weggezoomt. Jetzt waren alle Straßen und Gassen des Künstlerviertels auf dem Universitätsgelände und darum herum klar zu erkennen. Fluss und Park waren gekennzeichnet, ebenso das Museum und die Kunstgalerien, alles mit der Präzision eines modernen Kartographen ausgeführt. Aber alles erschreckend – wenn auch nur geringfügig  – anders als das Künstlerviertel, das mir so vertraut war. Himmel, bei diesem Maßstab hätte mein Haus an der Bank Street auf der Karte liegen müssen; ich wohnte weniger als fünf Minuten zu Fuß von den alten weltabgeschiedenen Innenhöfen im Herzen des Universitätsgeländes entfernt. Aber meine Straße war nicht einmal eingezeichnet. Der Fluss schien sich zu krümmen, um dort entlangzufließen, wo sie eigentlich hätte sein müssen, und das unregelmäßige Rechteckschema aus Straßen und Mietshäusern war beiseitegerückt, um ihm Platz zu machen. Zwei Straßen, die sich im rechten Winkel hätten kreuzen sollen, trafen stattdessen in spitzem aufeinander. Es war, als würden sich die kleinsten Veränderungen auf der untersten Ebene schrittweise ausbreiten.
    Der Stadtplan auf den Seiten sechs und sieben war mir schließlich völlig fremd.
     
    Ich weiß noch, wie ich als Kind ein Modell meiner Schule und ihrer Umgebung betrachtet hatte, das im Hauptflur der Schule ausgestellt war, wo der Rektor, der Vizerektor und ihresgleichen ihre Büros hatten. Es war nur eine winzige Diskrepanz – eine Steintreppe, die von dem erhöhten Parkplatz eines Wohnblocks herabführte und nie gebaut worden war, obwohl das Modell sie zeigte – und trotzdem konnte ich als Kind die Vorstellung nicht ertragen, dass es das Modell war, das nicht stimmte. Ich dachte nicht etwa, die Treppe müsste auch in Wirklichkeit da sein, wenn sie schon Teil des Modells war, oder umgekehrt – ich war zu jung, um zu begreifen, was genau mich störte –, aber ich kann mich noch an das unbestimmte Gefühl der Beklommenheit erinnern, die Verwirrung angesichts der fehlenden Übereinstimmung. Dieselbe Unruhe verspürte ich jetzt, so viele Jahre später, aber weit stärker.
     
    Ich blätterte weiter, und da sah ich die Stadt und ihre Umgebung, die Küste und die ländliche Gegend dort. Jetzt war es eindeutig nicht mehr die Stadt, die ich kannte. Denn die Stadt, die ich kannte, befand sich an einem Fluss, aber nicht an seiner Mündung. Die ganze Geographie war falsch und trotzdem erkannte ich sie wieder. Der Verlauf der Küste war mir soweit vertraut und ich erkannte die Insel wieder, die nur eine kurze Fahrt mit der Fähre vom Hafen entfernt war; sogar den Hafen fand ich, der dort war, wo sich in meiner Wirklichkeit ein kleines Seebad angesiedelt hatte, mit Eisdielen und Spielhallen, ein Tummelplatz für alte Menschen und junge
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