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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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überforderte.
    Stattdessen war ich noch ratloser geworden. Nachdem ich es jetzt etwas eingehender studiert hatte, begann es mich mehr und mehr zu beunruhigen, denn an ein paar winzigen Stellen – nur hier und dort, wohlgemerkt – am Verlauf dieses Weges, dem Umriss jenes Gebäudes – schien es sich ein ganz klein wenig von meiner Erinnerung zu unterscheiden.
     
     
    Ein kühles weißes Kissen
     
    »Wie spät ist es?«, fragte Jack. Ich sah auf meine Uhr, aber Puck kam mir zuvor.
    »Sommer«, sagte er. Eigentlich war April, aber es gab Zeit und es gab Puckzeit, in der Stunden und Minuten als Viertel nach Sommersprosse bezeichnet wurden und in der jeder Tag, an dem es sonnig genug war, dass man draußen im Gras herumliegen und Zigaretten rauchen konnte, als Sommer galt. Es war herrlich an jenem Tag, wir badeten im Sonnenlicht, und Puck und Jack lagen faul am Hang einer von Mauern umgebenen Wiese zwischen Bibliothek und Lesesaal. Der gedrungene Block der Cafeteria lag finster drohend hinter uns und der Turm der Universität reichte weit ins Blau hinauf, zu massiv und archaisch, um einem Elfenbeinturm ähnlich zu sehen, aber dennoch – in der kannelierten Feinheit seiner altertümlichen Form verleugnete er seine viktorianische Herkunft und gaukelte uns antike Phantastereien vor. Es war herrlich an jenem Tag, also war Sommer.
     
    Das Sonnenlicht wurde von der Glasfront der Bibliothek zurückgeworfen und verlieh den weißen, mit Kieselsteinen getupften Wänden maurische oder mediterrane Wärme, es blitzte in den Glastüren des Hunterian Museum auf, wenn sie sich drehten und die Studenten hinein- und hinausgingen. Im Erdgeschoss verschmolzen Bibliothek und Museum zu einem Gebäude, plump und modern, würfelförmig hier und zylindrisch dort. Auf die Steinplatten vor dem Eingang schmiegte sich eine abstrakte Eisenskulptur in geschwungener Schlichtheit, vor den Stufen, die in das Kopfsteinpflaster und den Weg zur University Avenue übergingen. Folgte man diesem Weg, kam man am Mackintosh House vorbei, dem Nachbau eines Mietshauses, das mit Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen eines der berühmtesten Söhne Glasgows ausgestattet war – ein Anbau des Hunterian, vom Museum aus zugänglich, die falschen Haustüren absurd hoch gelegen, ohne Stufen, um zu ihnen hinaufzugelangen. Zu meiner Linken lag der Lesesaal, in den Zwanzigern gebaut, niedrig und rund, mit hohen schmalen Fenstern und einem Kuppeldach; Art Nouveau, glaube ich, auch wenn ich mir über den Unterschied zwischen Nouveau und Deco nie ganz klar geworden bin. Und obwohl die in den Sechzigern erbaute Monstrosität aus braunen Ziegeln und Rauchglas hinter mir – das Hub – so hässlich war, dass sie es verdient hätte, in die Luft gesprengt zu werden, habe ich keinen Winkel der Welt jemals so geliebt wie diese von grob behauenen Sandsteinmauern umgebene, leicht abfallende Wiese zwischen dem Lesesaal und der Bibliothek, und nie habe ich irgendwo so geliebt wie dort und damals.
     
    Ich saß auf einem der Holzblöcke, die sich erst seit kurzem hier befanden. Die Universität hatte einen Künstler beauftragt, ihres fünfhundertundfünfzigsten Jahrestags zu gedenken, und er hatte den grünen Hang in eine Art moderner Installation verwandelte. Mit einiger Beklommenheit hatte ich mit angesehen, wie die Wiese abgesperrt und das Gras aufgewühlt worden war. Aber als sie fertig waren, musste ich zugeben, dass alles jetzt noch schöner und friedlicher wirkte. Der Künstler hatte zehn dieser Holzblöcke paarweise aufgestellt, jedes Paar so versetzt zueinander, dass es die einander gegenüberliegenden Ecken eines langen, schmalen Rechtecks bildete, während die verbliebenen Ecken von niedrigen Büschen bezeichnet wurden; fünf dieser schmalen Rechtecke unterteilten den Hang. Auf jedem der dunklen Holzblöcke lag an einem Ende ein weißes Porzellankissen, und dünne, seitlich entlang der Holzblöcke in die Erde eingegrabene Glastafeln – die nachts erleuchtet waren – erzählten die Geschichte des Werkes in zehn Abschnitten. Die Büsche waren Heilkräuter, eine Anspielung auf den ersten heilkundlichen Garten der Universität, über den erst vor kurzem von einem Wissenschaftler, der in den Archiven gewühlt hatte, Dokumente gefunden worden waren. Die Blöcke waren Kopien von Seziertischen der Anatomen im alten Stil, eine Erinnerung an die älteste Fakultät der Universität.
    An jenem Tag lag ich auf einem davon, den Kopf auf dem kühlen weißen Kissen,
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