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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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herumgekommen. Diese Mysterienspiele wurden in ganz Britannien aufgeführt und ebenso auf dem Festland. Und wohin die Fuhrleute auch zogen, tauchte diese Geschichte über das uralte Buch auf. Mythen, die auf einem Schauspiel fußten, das aus einer Legende zusammengeflickt war, die als Randbemerkung in der Heiligen Schrift geschrieben steht. Geschichten aus Geschichten aus Geschichten. Nichts davon ist wahr, aber auf lange Sicht vergessen die Leute, was Erfindung und was Tatsache ist. Die Steinmetze haben kein Monopol auf Mythologien, musst du wissen. Aber es ist wirklich lachhaft: Die Vorstellung, dass ein Engel mit Reiseziel Erde einen jungen Fuhrmann angeheuert hat, ein geheimes Buch durch Europa zu karren, nach ...«
    Er verstummte unvermittelt. Meiner verwirrten Miene muss er angesehen haben, dass ich diesen Teil der Geschichte noch nicht kannte. Er seufzte.
    »Dein Großvater hat das geglaubt«, sagte er. »Dass die Fuhrleute, die Carters, die Engel als Hüter des ›Buches‹ abgelöst haben. Aber sie haben es unterwegs verloren. Und seit jener Zeit suchen sie es.
    Dein Großvater war ein kranker Mann«, sagte er – leise, traurig. »Er war im Großen Krieg, musst du wissen. Er wollte an ... etwas Bedeutendes glauben. Der Krieg verändert die Menschen. Der Tod ... verändert die Menschen.«
     
    Der Tod verändert die Menschen.
    Ich weiß noch, wie Jack und Joey sich immer gestritten haben; wie Jack sich zugrunde gerichtet hat; wie Joey ihm die Ouzoflasche aus der Hand riss und ihn anbrüllte; wie Jack ihn wieder und immer wieder anschrie – fick dich, fick dich, fick dich.
    Manchmal bezeichnet man Menschen als verrückt – man sagt: Dieser Jack ist völlig verrückt – und das will gar nichts heißen, bis man eines Tages mit ansieht, wie sie wirklich und wahrhaftig verrückt werden.
    Im maurischen Spanien lebte ein Gelehrter, Isaac ben Joshua, der behauptete, das ›Buch‹ treibe jeden, der es sehe, in den Wahnsinn. Er behauptete, dass es keine Taten enthalte, sondern Gesetze, dass es in Wirklichkeit das ursprüngliche Buch der Gesetze sei – nicht der mosaischen, sondern eines noch älteren Bundes, der nur als Randbemerkung in den Apokryphen Spuren hinterlassen hatte und der auf die vorsintflutliche Zeit des Enosch und der rebellischen Engel zurückgeht – ein Gesetzbuch, um der fassbaren Welt irgendwo zwischen Kabbala und Infinitesimalrechnung einen Rahmen zu geben. Isaac bezog sich auf eine islamische Quelle, auf eine Geschichte, die behauptete, bis auf eine seien alle Seiten leer, und auf dieser Seite stehe nur ein Satz, eine Gleichung, die das wahre Wesen der Welt erfasse. Deshalb, so sagte er, seien alle, die das ›Buch‹ gesehen hätten, dem Wahnsinn verfallen – sie hätten den Sinn des Lebens, in wenigen Worten von mathematischer Reinheit dargelegt, nicht begreifen können, nicht wahrhaben wollen.
    Nach dem, was mit Thomas geschehen war, glaubte ich damals zu wissen, wie dieser Satz lautete. Zwei Wörter.
    Menschen sterben.
     
    Auf der Seite, die ich jetzt betrachtete, der ersten Seite des ›Buches‹, waren allerdings keine Wörter zu sehen, nur eine Blaupause des Gewirrs von Tunneln und Räumen, das mich hier unten in den gemauerten Tiefen des alten Gebäudes umgab. Goldene Buchmalereien zeichneten die Leitungsrohre nach, die Lüftung, die Kabelstränge und Heizungsrohre, während dasselbe augengleiche Emblem vom Einband des ›Buches‹ hier in schwarzer Tinte ausgeführt war, etwas kleiner, flüchtiger. Ich spürte, wie das Brennen in meinem Kopf wieder stärker wurde. Mit einem Werk aus grauer Vorzeit wie diesem, dessen Inhalt so ... modern war, stimmte etwas nicht. Ich hatte keine rätselhafte Prophezeiung vor mir, keine vage Voraussage, sondern einen präzisen Projektentwurf, einen Grundriss. Und als ich auf die nächste Seite weiterblätterte, erkannte ich die Bibliothek, wie ich sie auf den Bauplänen gesehen hatte, die ich schon so lange studiert hatte. Auch hier das Symbol in der Mitte. Die Seiten zwei und drei stellten das Gebäude in seiner Umgebung dar, ein Netzwerk aus Straßen und Fußwegen, die Gebäude und Wiesen des Universitätsgeländes um die Bibliothek herum. Ich erkannte alles wieder; ich hatte alles sofort erkannt, und dieses Erkennen war es, was mich dazu veranlasst hatte, das ›Buch‹ zu schließen und erneut aufzuschlagen, als würde das etwas ändern, als würde ich beim zweiten Hinschauen etwas sehen, das meinen Verstand nicht
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