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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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fürchteten das Böse, das dem Wissen innewohnte. Und so sagten sie, es müsse eine Abschrift des Lebensbuches geben, ein dunkles Gegenstück, von Luzifer vor seinem Sturz angefertigt, zu jener Zeit, als er noch Gottes rechte Hand war. Und sie sagten, er habe vielleicht den wahren Namen des Herrn hineingeschrieben. Vielleicht war das auch der Grund, warum er stürzte. Wenn das zutraf, flüsterten sie, war es ein Buch, das benutzt werden konnte, um sogar den Allmächtigen herbeizurufen und an den Willen eines kühnen Sterblichen zu binden.
     
    Die einzige Binde, die mich im Augenblick interessierte, war jedoch der behelfsmäßige Verband, den ich mir aus dem Ärmel gerissen hatte und der den Blutfluss an meiner verletzten Hand zum Stillstand brachte. War ich schon bei den anderen Büchern dieser kostbaren Sammlung rücksichtslos gewesen, so hatte ich den Bücherschrank mehr als grob herausgewuchtet. Zum Vorschein war staubverschmiertes Glas gekommen, das die Vorderseite der Nische abschirmte – wie ein bemaltes Fenster, wie die in einen verborgenen Winkel eingelassene Vitrine in einem Museum oder der geheime Keller eines Schmugglers. Mit dem Saugnapf und dem Diamantschneider hatte ich äußerst vorsichtig einen Kreis in die Glasscheibe geschnitten. Aber ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dass sie mit einer Explosion zerbersten würde, die mich durch das halbe Gewölbe schleuderte. Ich hatte Glück gehabt. Nur eine Scherbe war groß genug gewesen, um mich mehr als oberflächlich zu verletzen – sie hatte sich mir tief in die Handfläche gebohrt, als ich die rechte Hand hochgerissen hatte, um mein Gesicht zu schützen. Die übrigen Scherben hatten mir nur leichte Schnitte zugefügt, eine ganze Menge zwar, die meisten davon jedoch nur Kratzer. Es war mir ein Rätsel, warum die Vitrine derart unter Druck gestanden hatte, dass sie in dem Augenblick zersplitterte, als der Verschluss aufgebrochen wurde. Verglichen mit dem Buch jedoch, welches darin in einem Salzkreis lag, war all das belanglos.
     
     
    Legenden eines ganzen Lebens
     
    »Ein Stundenbuch«, sagte ich. »Oder ein Namensbuch. Das weiß niemand.«
    »Bockmist«, sagte Joey. »Das denkst du dir doch alles nur aus.«
    »Halt die Klappe«, sagte Jack. »Ich will das hören.«
    Er schob mir einen Gin Tonic über den Tisch, reichte Joey ein Guinness, setzte sich mit seinem Ouzo auf einen Stuhl und schnupperte mit einem Grinsen und gerümpfter Nase daran.
    »Erzähl weiter«, sagte er.
    »Also gut«, sagte ich, die Stimme heiser, denn ich versuchte schon die ganze Zeit, gegen den dröhnenden Bass der Musikbox im Studentenklub anzureden. »Im siebzehnten Jahrhundert lebte ein jesuitischer Gelehrter, der behauptete, diese Meinungen seien alle beide Ketzerei. Ihm zufolge handelt es sich um das Buch, aus dem vor dem Thron Gottes jedermanns Sünden vorgelesen werden. Den allumfassenden Rechenschaftsbericht, nannte er das, oder eben das Jüngste Gericht. Nicht so sehr ein Namensbuch der Toten, sondern ein Buch, in dem alles steht, was irgendjemand jemals getan hat oder tun wird – jede Tat, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«
    »Das müsste ein verdammt dickes Buch sein«, sagte Joey.
    Ich zuckte mit den Achseln, lächelte, nippte an meinem Glas.
    »Vielleicht ist die Sprache, in der es geschrieben ist ... dichter. Ich weiß es nicht. Genau das meine ich. Niemand weiß genau, was es ist. Wo es ist dagegen ... das ist etwas anderes.«
    »Du liest zu viel«, sagte Joey. »Mann, ich wette, wenn du dir die Bibliotheksdatenbanken anschaust, dann hat jede Universität ein Exemplar des –
     
    »Makromimikon«, sagte Onkel Reynard. »Weißt du, es stellt sich wirklich die Frage, woher Laafkräft seine Ideen hatte. Uralte Götter; ein Buch, das ein wahnsinniger Araber geschrieben hat; die Übersetzung eines noch älteren Textes. Woher hast du das?«
    Er drehte das ramponierte Taschenbuch in den Händen. Vergilbte Seiten, gebrochener Rücken, geknickte Ecken, reißerisches Titelbild – das war kein uraltes Geheimnis, nur moderne Trivialliteratur; nicht die Wahrheit, sondern Schund. Und darin stand alles, was mir mein Onkel erzählt hatte, soweit ich zurückdenken konnte.
    »Aus einem Antiquariat«, sagte ich. »Fünfzig Pence. Du ... du ... ich kann nicht glauben, dass du mich angeschmiert hast, all die ...«
    Mir fehlten die Worte. Die Legenden eines ganzen Lebens, bei einem Glas Milch erzählt oder – in letzter Zeit – bei einem Glas Bier, und
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