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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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reinweiß gebleicht, sondern vergilbt, braun, hautfarben, erdfarben, holzfarben, knochenfarben – in Farben von Dingen, die einst Leben bedeutet hatten. Prinzen und Könige gaben solche Bücher in Auftrag, und es bedurfte Jahre gebeugter Rücken, verkrampfter Hände und nachlassenden Augenlichts, sie von Hand herzustellen. Die Benediktiner behaupteten, Gott selbst habe einen solchen Band in Auftrag gegeben, bei dem einzigen Engel, dem es gestattet gewesen war, hinter den Schleier zu treten und Sein Angesicht zu schauen, Seine Worte zu hören und sie niederzuschreiben. Enosch, der Patriarch, der an Gottes Seite wandelte und in den Himmel aufstieg, wo er zum Engel Metatron wurde, habe auf seinen Befehl hin Gottes Wort und jeden Augenblick der Ewigkeit niedergeschrieben, der letztgültige Leitfaden für diejenigen, die nach Seinen Geboten leben wollten, unbedingt, uneingeschränkt. Doch kein Mensch war so vollkommen, dies auf sich zu nehmen; also stritten sie ab, dass das ›Buch‹ in dieser Welt überhaupt existiere, und behaupteten, es könne nur in der Ewigkeit aufgefunden werden, wo der Geist befreit sei von der Schwäche des Fleisches.
     
    »Das Ewige Stundenbuch«, hatte mein Vater gesagt. »Dein Großvater hat sich auf die Suche danach begeben, aber gefunden hat er es nie. Er konnte es gar nicht finden, denn es ist ein Mythos, ein frommer Wunsch. Es existiert nicht.«
    Ich erinnere mich noch gut an das leise Lächeln, das seine Lippen umspielte – diese Miene setzen vermutlich alle Väter und Mütter hin und wieder auf, wenn sie sehen, wie ihre Kinder die Torheiten der Eltern wiederholen, ein Lächeln, das sagt: Ja, das denken wir alle, wenn wir in deinem Alter sind, aber wenn du erst einmal älter bist, glaube mir, dann wirst du verstehen, dass die Welt anderen Regeln folgt.
    Ich war zu ihm gekommen, um ihn über all die phantastischen Geschichten zu befragen, die ich gehört hatte – von den uralten Geheimnissen, über welche die Familie Carter verfügte, nicht einfach nur Leichen im Keller, sondern Leichen, in deren Knochen geheimnisvolle Runen geschnitzt waren; von Schränken mit falschen Rückwänden, hinter denen sich finstere Tunnel verbargen, die tief, tief hinab in die Erde führten.
    »Aber Onkel Reynard hat gesagt, dass Großvater, als er im Orient war ...«
    »Onkel Reynard ist ein unverbesserlicher alter Fuchs«, sagte mein Vater. »Er erzählt tolle Geschichten, aber was er sagt, solltest du wirklich ... nicht unbedingt für bare Münze nehmen.«
    Ich weiß noch, wie entrüstet ich war, wie verwirrt. Ich war jung, so jung, dass es mir noch nicht in den Sinn gekommen war, zwei Erwachsene, denen ich vollkommen vertraute, könnten völlig unterschiedlicher Meinung sein. Mein Vater und sein Bruder Reynard – der Onkel, von dem ich meinen Namen habe – wussten schließlich über alles Bescheid, oder etwa nicht? Sie waren erwachsen. Mir war es nie in den Sinn gekommen, dass die Antworten, die sie mir auf meine Fragen gaben, miteinander unvereinbar sein könnten.
    »Natürlich solltest du auf deinen Vater hören«, hatte Onkel Reynard gesagt. »Ehrlich, mir solltest du kein Wort glauben. Wenn es um das ›Buch‹ geht, bin ich nicht im Geringsten vertrauenswürdig.«
    Und er hielt meinem Blick mit vollkommener Aufrichtigkeit stand.
    »Fast genauso wenig wie die Zisterzienser«, sagte er.
     
    Die Zisterzienser schalten die Benediktiner Narren. Sie waren durchaus davon überzeugt, dass das ›Buch‹ in dieser Welt existierte, aber sie fürchteten es wie den Teufel. Sie verdammten das Manuskript als das diabolischste aller Zauberbücher, als ein Namensbuch der Toten, in dem jedes Geschöpf verzeichnet war, das jemals gelebt hatte oder leben würde – Mensch, Engel, Teufel. Sie bezogen sich auf die Thora und den Koran, auf die christlichen Apokryphen und auf jüdische und islamische Legenden ... Sprachen die Offenbarungen des Johannes nicht von einem Buch, das Gottes Schreiber angefertigt hatte, ein Buch des Lebens, das Namen enthielt, die nicht bloße Taufnamen waren, sondern die wahren und geheimen Namen  – Namen, denen jeder gehorchen musste, wenn er vor den Thron Gottes gerufen wurde? Aber wenn sich das in dieser Welt erst in den Letzten Tagen erfüllen sollte, woher hatte Salomo dann die Namen aller Dschinn erfahren? In jenen Tagen verbrannten sie alte Jungfern, Kräuterkundige und Hebammen auf dem Scheiterhaufen; sie glaubten, die Welt sei von Finsternis durchdrungen; sie
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