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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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Blick fiel auf weitere Blätter und ich begriff, dass er manche dieser Zahlen immer und immer wieder ausgerechnet hatte. Für all die Binärschreibweisen der Buchstaben und Zahlen, die er benötigte, hätte er einfach ein weiteres Verweisblatt zusammenstellen können, doch stattdessen rechnete er sie jedes Mal aufs Neue aus. Jeden Buchstaben, jeden Strichpunkt, jeden Punkt schaute er auf dem Blatt mit den ASCII-Werten nach und rechnete den Binärcode dafür aus, auch wenn er das nur wenige Augenblicke zuvor schon einmal getan hatte.
     
    Gerade nahm er ein weiteres Blatt, das fast gänzlich mit Einsen und Nullen vollgeschrieben war, jedes achtstellige Byte mit einem Gedankenstrich abgetrennt, und übertrug eine Zahl von seinen Notizen auf dieses Blatt. Dann wandte er sich wieder der Bibel zu, daraufhin dem ASCII-Blatt, und dann wiederum seinen Notizen, um den nächsten Wert auszurechnen. Als die Seite voll war, stand er auf und ging in eine Ecke des Zimmers hinüber. Er war barfuß.
    In der Zimmerecke türmten sich die beschriebenen Blätter, mit der Schrift nach unten, eins auf dem anderen, brusthoch.
    »Was zum Teufel ist ...«
    Joey folgte ihm. Ich wusste einfach, dass er das oberste Blatt vom Stapel nehmen, es Jack unter die Nase halten und fragen würde, was zum Teufel er da treibe. Und ich konnte das Knarren der losen Dielen von Jacks billigem Zimmer hören, als Joey hindurchstapfte und einen der Stapel mit noch eingeschlagenem Papier streifte, als er darüber hinwegstieg. Ich konnte seine weißen Fingerknöchel sehen, seine angespannten Schultern, und ich wusste, dass der Turm wackelig war. Himmel, er bestand aus einzelnen Blättern und reichte Jack bis an die Brust; zwar stand er in der Ecke, aber er lehnte nicht einmal an der Wand. Es war ein Wunder, dass es Jack gelungen war, ihn so hoch zu stapeln, ohne ...
    Vor meinen Augen erzitterte der Turm übersetzter Bibelstellen mit jedem Dielenknarren, neigte sich zur Seite und fiel um. Seiten segelten durch die Luft und ergossen sich lawinenartig über den Boden, Blätter rutschten über Blätter, bekamen Auftrieb, überschlugen sich und stürzten wie Papierflieger ab.
    Und an jenem Tag ging Jack für uns verloren und wir für einander, denn Thomas war tot und Jack war verrückt und Joey zog sich in sich selbst zurück, und ich ... ich konnte nur noch an das Ewige Stundenbuch denken.
     
     
    Der Blick aufs Ganze
     
    Während ich die Seiten umblätterte, darauf bedacht, kein Blut aus einer meiner zahllosen Schnittwunden auf das unschätzbare Buch tropfen zu lassen, beachtete ich kaum den Alarm, der mir in den Ohren klingelte, seit die Scheibe zersplittert war. Ich war von einem sonderbaren Gefühl der Gewissheit wie gebannt; ich wusste nur nicht, worin diese Gewissheit bestand. Eine Seite, noch eine Seite und noch eine, und Britannien lag vor mir – ein Britannien ohne Glasgow oder London oder irgendeine der Großstädte, die ich hätte vorfinden müssen, oder vielmehr befanden sich diese Städte am falschen Platz, ihr Umriss war mir fremd. Eine Landkarte der Vergangenheit oder der Zukunft oder einer erfundenen Gegenwart?
    »Das Makromimikon. Der Blick aufs Ganze«, hatte mein Onkel gesagt. »Welche Gestalt es auch annimmt – und manche sagen, dass es für jeden eine andere Gestalt annimmt – und irgendwie glaube ich ... ich weiß nicht wie, aber ich glaube, es ist eine Art Spiegel der Welt oder von etwas noch Größerem, das die Welt mit einschließt.«
     
    Die nächste Seite – Europa – und wiederum die nächste, und vor mir lag die Welt, der Globus, hochgerechnet und verzerrt, um auf die Fläche der beiden Seiten zu passen. Der Kartograph hatte absichtlich auf die unwirtlichen Polarregionen verzichtet und ließ die Küste der Antarktis zweigeteilt und nach außen gebogen entlang des unteren Seitenrandes verlaufen. Die oberen Regionen der nördlichen Kontinente waren bei der Umwandlung von drei in zwei Dimensionen entlang des Seitenrandes langgezogen und gekrümmt worden, sodass das Nordpolarmeer auf einen Kanal zusammengeschrumpft war, der Grönland auf beiden Seiten umschloss.
    »Eine verdammt gute Geschichte«, hatte Jack gesagt, als wir im Studentenklub saßen. »Das muss ich dir lassen. Aber ich glaube dir kein Wort.«
    Erneut hatte er auf die Uhr geblickt und dann zur Tür.
     
    Ich fühlte mich fiebrig und mir war klar, dass das nicht nur an dem Blutverlust lag. Ich hätte längst von hier verschwinden müssen. Ich hätte so schnell wie
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