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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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eine Welt, die abgebildet werden konnte, ein zerklüfteter Zusammenprall von Land und Wasser – Gebiete, die so groß waren, dass Begriffe wie ›Kontinent‹ und ›Ozean‹ bedeutungslos wurden.
    Ich blätterte immer weiter.
     
     
    Die schweigende Welt
     
    Während mir das Herz in der Brust hämmerte und mir schwummrig wurde, begriff ich, dass die Alarmglocke, die ich hörte, mir nur noch undeutlich und wie von fern in den Ohren klingelte. Niemand kam. Niemand würde jemals kommen. Das wusste ich mit traumwandlerischer Sicherheit. Ich wusste es mit derselben Gewissheit, die mir auch gesagt hatte, dass dieser archaische Text vor mir nicht die Ausgeburt meiner Phantasie war, sondern wirklich und wahr, wahrer als die Wirklichkeit.
     
    Ich wusste es, noch bevor ich die allerletzte Seite des ›Buchs‹ aufgeschlagen hatte, die allerletzte Landkarte, auf welcher der Kartograph in grauer Vorzeit die Grenzen des bekannten Universums eingezeichnet hatte, eine leere, gleichförmige Ebene, die sich in alle Richtungen erstreckte und in deren Mitte, winzig und verschlungen, die größte aller Welten nur eine Oase war, mit einer gepunkteten Spur, die von dort aus nach Norden führte wie eine unvorstellbar lange Straße in unfassbar ferne Regionen.
     
    Ich wusste es, noch bevor ich endlich durch die unterirdischen Gänge der Bibliothek in die schweigende Welt hinausstolperte, und während ich durch das Universitätsgelände irrte, ohne auf eine Menschenseele zu stoßen, auf die Straßen hinaus, zwischen den Sandsteinhäusern hindurch, Asphaltstraßen entlang und an Ampeln vorbei, die noch immer ihren Kreislauf von Rot, Gelb und Grün durchliefen, obwohl die leeren Autos einfach nur dastanden, blind für ihre Befehle. Ich wusste es, auch wenn ich nicht die Worte finden konnte, die meine Zunge hätte bilden können, um dieser unbestimmten, beunruhigenden Gewissheit Ausdruck zu verleihen.
    Ich schrie, aber es war niemand da, der mich hätte hören können.
     
    Ich hatte keine Ahnung, zu welchem Zeitpunkt ich in diese, meine neue Wirklichkeit übergewechselt war: ob es mein Blut auf dem ›Buch‹ gewesen war, das irgendwie, gleich einer magischen Salbe, seine Macht freigesetzt hatte, oder ob das Tor um mich herum einfach aufgegangen war, als ich das ›Buch‹ aufgeschlagen hatte. Vielleicht hatte mich auch die Druckwelle von der zersplitternden Scheibe der Büchervitrine auf direktem Wege aus meiner eigenen Welt in eine andere geschleudert. Oder hatte die Vitrine gar keine Luft enthalten, sondern etwas noch weniger Fassbares, eine ätherische Kraft, die durch mein unüberlegtes Eindringen freigesetzt worden war und die sich eben jetzt in einer Schockwelle von ihrem Ursprung nach außen hin fortpflanzte und alles veränderte, was sie berührte?
     
     
    Veränderungen
     
    Und da standen wir nun, ganz hinten in der Kirche, Jack und Joey und ich. Er hatte eine große Familie und viele Freunde, unser Puck, und die Kirche war voll. Ich habe gehört, dass das oft so ist, wenn jemand jung stirbt. In jungen Jahren hinterlässt man viele Trauernde. Aber Jack mussten wir geradezu mit Gewalt hinschleppen; erst wollte er gar nicht gehen, sagte, er wolle nicht dasitzen und zuhören müssen, wie ein Pfarrer Plattitüden herunterleierte, er wolle keine Lobeshymnen auf diesen Scheißgott in seinem Scheißhimmel singen. So hat er es jedenfalls ausgedrückt.
    Ich schaute kurz zu Jack und Joey hinüber, wie sie da neben mir standen, schweigend in schwarz – schwarze Anzüge, schwärzester Stimmung. Und mir kam dieser völlig absurde Gedanke, wirklich dumm und verrückt, dass die beiden wie das Klischee von Geheimagenten aussahen, der Vorstellung Hollywoods entsprungen, oder wie Sinatra und Konsorten als Gangster verkleidet, gedungene Mörder, Männer in Schwarz. Engel des Todes, die geduldig auf ihre Beute warteten.
    Sie wandten sich gleichzeitig zu mir um und schauten mich an, im selben Augenblick, wie zwei Teile derselben Maschine, und als ich ihren leeren Blick sah, lief es mir kalt den Rücken hinunter, denn ich empfand dieselbe Leere.
     
    Inzwischen frage ich mich sogar, ob sich auf der Welt vielleicht gar nichts verändert hat – außer mir. Das ist mir in den Sinn gekommen, als ich durch die leeren Straßen irrte, mir vertraute und doch fremde Straßen entlanglief – vielleicht war die Welt so wie immer, und ich war es, der sich verändert hatte und der sie zum ersten Mal in ihrem ganzen Umfang sah, ganz allein in ihr.
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