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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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selbst steht im, nun ja, Vorgarten seines Fertighauses — einem mit schmutzigen, platschnassen Planen abgedeckten Sumpf. Er hat die Arme ausgebreitet, den Blick durch eines der größten Löcher im Dach himmelwärts gerichtet. Den Mund weit aufgesperrt, trinkt er den Regen. Nach endlosen Sekunden schüttelt er sich das Wasser aus dem weißen strähnigen Haar, setzt sich die ramponierte schwarze Melone wieder auf und wendet sich mir zu.
    »Sei gegrüßt, mein Freund«, sagt er, und die schwarzen Zeichen, die tief in die mit Narben bedeckte, straffe Maske seines Gesichts eingegraben sind, verformen sich auf groteske Weise, als er mich mit einem Grinsen willkommen heißt, das einem Totenschädel wohl angestanden hätte.
    »Ist das nicht ein großartiges Wetter, mein Junge?«
    Er spricht mit rauer und krächzender Stimme und einem erstickten Akzent — wie ein alter Bostoner oder jemand in der Art. Wegen der verzerrten Vokale verstehe ich anfangs nicht, was genau er sagt.
     
    Mit wenigen langen Schritten steht er direkt vor mir. Er krümmt den Rücken und schaut mir in die Augen. Ein Gesicht, das nur in der Hölle nicht auffiele — blasse, über hervorstehende Knochen gespannte Haut, eingefallene Wangen, eingesunkene Augenhöhlen. Er sieht aus, als fresse ihn etwas von innen heraus auf. Und er ist nicht einfach nur hager, er wirkt ausgezehrt. Aber die Narben sind das Schlimmste.
    Ein weißes Narbengeflecht bedeckt sein ganzes Gesicht und auch seinen ganzen Körper — heißt es jedenfalls: ein wildes Mosaik aus winzigen rautenförmigen Flächen, die im Schnitt ungefähr ein Quadratzoll groß sind. Und auf jeder Fläche befindet sich ein Zeichen, nicht eigentlich auftätowiert, sondern in die Haut geschnitten und schwarz eingefärbt. Kein Zeichen gleicht dem anderen und keines ist zu entziffern, zumindest nicht für mich. Wie ein uralter Mayakodex scheinen die Zeichen eine Geschichte zu erzählen, die ich nie werde lesen können, ein Blutritual, das für Außenstehende bedeutungslos ist, aber entsetzlich real werden würde, wenn man nur den Schlüssel zu seinem Verständnis besäße.
    Ich zittere.
     
    Nun breitet er wieder die Arme aus, und sein zerlumptes schwarzes Jackett flattert im Wind.
    »Sprich, mein Junge.«
    Seine braunen Hosen sind tropfnass, zerfetzt und schlammbespritzt, und sein Jackett mit dem breiten Revers gehört einem weit zurückliegenden Jahrzehnt an. Ich mustere seine Kleidung mit großer Neugier, denn ich will ihm nicht ins Gesicht schauen. Er legt mir den Fingerknöchel unters Kinn und hebt mein Gesicht an.
    »Also«, sagt er.
    »Sie wollten mich sehen.«
    Mit ganz leiser Stimme.
    »Ja, richtig. Du bist ein braver Junge, Tom, wirklich brav. Ich bestelle dich zu mir, und du kommst sofort. Bin ich so ... zum Fürchten?«
    Ich beiße mir auf die Unterlippe und nicke.
    »Du bist ein braver Junge, ein intelligenter Junge! Du könntest es einmal weit bringen, was meinst du?«
    Stumm und benommen nicke ich.
     
     
    Wo bist du jetzt?
     
    Seine behandschuhte Hand schlägt mir unvermittelt ins Gesicht, mit beiläufiger Brutalität, und noch während ich stürze, tritt er mir in den Magen, und ich klatsche in den Matsch. Ich röchle, schluchze, huste und versuche, von ihm wegzukriechen, viel zu erschrocken, betäubt und außer Atem, um an irgendetwas anderes zu denken. Ich spüre den Rand einer Plane unter meiner Hand, meine Finger bohren sich in den Schlamm. Er packt mich am Kragen und stellt mich grob auf die Beine. Ich blinzle, Tränen laufen mir über die brennenden Wangen; außer dem schalen Geschmack von Regenwassers und Schlamm schmecke ich Salz. Ich glaube, ich bin noch nie zuvor zu Boden geschlagen worden.
    »Wie weit willst du es denn bringen, mein Junge? Du hast doch ein Ziel vor Augen, zumindest eine vage Vorstellung. Wenn ja, würde ich sie gerne kennenlernen. Na?«
    Er lässt mich los, und ich stürze erneut.
    »Hätte mich auch gewundert. Anscheinend bist du wie alle anderen auch ... deinesgleichen kenne ich.«
    Seine Stimme trieft vor Verachtung, aber als ich ihm ins Gesicht schaue oder zumindest in die Augen, ist Enttäuschung in ihnen zu lesen, das könnte ich beschwören.
    »Warum stehst du nicht auf, mein Junge? Komm schon. Zeig etwas Rückgrat.«
     
    Ich rutsche durch den Matsch, stütze mich an einem mit einer Plastikplane bedeckten Möbelstück ab und versuche mich daran hochzuziehen.
    »Sag mir doch, mein Junge — wo bist du jetzt? Vielleicht weißt du das wenigstens.«
    Es
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