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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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wie die anderen gezeichnet wurden — ich muss fünf oder sechs gewesen sein — und dann war ich an der Reihe und ich weinte, und Annie musste mich festhalten und trösten und mir gut zureden, während sich die Tätowiererin mit der zitternden, summenden Nadel über mich beugte und gleichzeitig das Blut und die Tintenreste mit dem Tupfer wegwischte. Ich kann mich noch gut an den heißen, beißenden Schmerz in meiner Schulter erinnern und an das unbeschreibliche Gefühl, mir würde dieses Zeichen aus der Seele gerissen und nicht in die Haut gestochen. An das, was danach geschah, an das Skalpell, kann ich mich kaum noch erinnern — vielleicht wurde ich bewusstlos. Aber ich weiß noch, dass ich hinterher auf dem Karren des Lumpensammlers saß und vor Schmerz und Elend heulte, während Tante Stef mich in den Armen hielt und Annie mir gegenübersaß, beide ebenfalls mit Tränen in den Augen. Damals dachte ich, auch ihnen müsse die Schulter wehtun, aber jetzt glaube ich, dass sie wussten, was wir alles aufgaben.
     
    Der Lumpensammler ballt die Hand um den Hautfetzen, und ich kann es spüren, nicht an der Schulter, sondern im Nacken.
    »Wer bist du, Tom? Ohne das hier bist du nichts. Das Einzige, was dich auf dieser Welt hält, ist der Vertrag — also ich. Du hast nichts mehr, an dem du dich festhalten könntest; wenn wir runter zur Dämmerung gehen, mein Junge, dann wird deine Seele einfach vom Wind davongetragen.«
    »Ich habe Jack«, sage ich. »Wir haben einander.«
    »Richtig, aber braucht er dich wirklich?«
    Ich bleibe ihm die Antwort schuldig.
    »Jack ...«, sagt er gedankenverloren. »Vielleicht gibt es doch etwas, das du mir geben kannst. Du ›liebst‹ diesen eiskalten Kerl, nicht wahr? Du würdest deine Seele für ihn geben, wenn du könntest. Was meinst du — würde er auch seine Seele für dich geben? Das ist es doch, was ›Liebe‹ bedeutet, nicht wahr? Oder was denkst du?«
    Mir ist übel und ich fürchte, dass ich weiß, worauf er hinaus will. Ich bete darum, dass ich mich irre.
     
    »Na komm schon, meine Junge, du weißt doch, dass niemand seine Seele bekommen wird. Sie ist sicherer als in einem Schweizer Banktresor. Der Kerl hat sein Herz schon vor langer Zeit herausgeschnitten und in einer Stahlkassette weggeschlossen, damit ihm nichts passiert. Wie kannst du ihn ›lieben‹, wenn du ihn nicht einmal kennst? Woher stammt er, wie ist er zu dem geworden, was er ist; was für ein heimliches Zeichen trägt er, wie lautet sein geheimer Name, wie sieht es in seinem Innersten aus, Jack? Solange du das nicht weißt, wirst du ihm nie wirklich nahe sein und er wird nie wirklich dir gehören. Stimmt das etwa nicht? Glaubst du das nicht auch?«
    »Lassen Sie mich in Ruhe! Ich weiß nicht, was Sie —«
    »Und ob du das weißt«, sagt er. »Du willst wissen, woran du mit ihm bist, nicht wahr? Du willst es wirklich wissen. Tief in dir. Du willst, dass er dir gehört!«
    »Nein, das ist nicht —«
    »Ich könnte dir helfen. Wir würden uns schon auf etwas einigen.«
    »Nein! Lassen Sie ihn aus dem Spiel.«
    »Du willst ihn? Ich bin der Lumpensammler, mein Junge. Du willst etwas, ich besorge es dir, wenn der Preis stimmt. Keine Angst, wir werden uns schon einig. Besser noch, wir machen uns jetzt gleich auf den Weg. Es ist Zeit, deine Schuld zu begleichen, mein Junge. Entscheide dich — ich kann ebenso gut deinen Kredit aufkündigen wie ihn aufstocken.«
     
     
    Die Abhängigkeitserklärung
     
    Ich höre nicht auf ihn. Ich weiß nicht, worauf er hinauswill, aber es ist mir auch egal.
    »Nein«, sage ich. »Er wird Ihnen nie gehören. Nicht so, wie wir anderen.«
    »Glaubst du das wirklich? Dass du mir gehörst?«
    »... ja ...«
    »Haben sie dir das erzählt, mein Junge?«
    Ich schweige.
    Der Lumpensammler lacht, zieht den Hut vom Kopf, schüttelt die Haare, lacht weiter. Er setzt den Hut wieder auf und versetzt ihm einen leichten Schlag.
    »Du gehörst mir nicht, mein Junge. Ich gehöre dir! Um Himmels willen, schau mich doch an und frag dich dann, ob du in mir nicht lesen kannst wie in einem offenen Buch.«
    Er zerrt am Kragen seines zerlumpten T-Shirts und entblößt seine tätowierte Brust.
    »Schau mich an. Das ist dein Vertrag, der mir da in die Haut gestochen wurde, die Brandzeichen, die mich an diese Stadt binden, die wahren Namen der Einwohner von Endhaven, unterzeichnet und besiegelt, die Anhängigkeitserklärung. Das da —« [er hält die Faust hoch] »— ist dein wahrer Name.«
     
    Ich
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