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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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starre das Geflecht rautenförmiger Narben an, die seine Brust bedecken, sein Gesicht — all die Narben, wo die Seelenfetzen festgenäht worden sind, ein grauenhaftes Harlekinkostüm.
    »Sie ... Sie haben uns hierher geführt. Und im Gegenzug haben wir Ihnen unsere Seelen verkauft.«
    Ich muss an die Tätowiererin denken und daran, wie Annie geweint hat, an den Karren des Lumpensammlers, an all die Jahre, in denen wir uns in Endhaven vergraben, in denen wir unsere Vergangenheit verscharrt und die Samen eingepflanzt haben, die wir brauchten, um überleben zu können, den Blick stets ostwärts gerichtet, auf den Ozean und die Dämmerung, wo all unsere Erinnerungen den Fluten anheimgefallen waren. Wir haben unsere Seelen aufgegeben, um hierherkommen zu können. Das haben wir jedenfalls immer angenommen.
    »Du und deine beiden lesbischen Hexen, der ganze Rest von Endhaven — ihr seid die Käufer, mein Junge. Ihr seid die Kunden. Ich bin nur euer kleines schwarzes Buch, in das mit Blut geschrieben wird. Ihr seid nicht an mich gefesselt. Ich habe euch aneinandergefesselt. Ich —« [er lacht verbittert] »— ohne diese Haut bin ich nichts, ohne sie wäre ich bedeutungslos für euch.«
     
    »Sie haben uns hierher gebracht«, sage ich mit leiser Stimme, völlig verwirrt.
    Ich glaube nicht, dass ich jetzt noch irgendetwas begreife.
    »Jedes Symbol auf dieser Haut ist ein Leben, für das ich verantwortlich bin, ein Name, den ich trage, um ihn vor einer Welt zu beschützen, die in die Brüche gegangen ist. Denn die Menschen in dieser Stadt sind zu feige und schwach, um ihre Seelen selbst in sich zu tragen. O ja, ich habe euch hierher geführt — getragen habe ich euch! Ja, ihr braucht mich. Ich bin euer Scheißsklave, mein Junge, und ich bin müde und zerrissen. Ich will ... frei sein.«
    Plötzlich wird mir alles klar.
    »Jack ...«
    »... ist jemand, der stark genug ist, um die Welt auf dem Rücken zu tragen.«
    Übelkeit steigt in mir auf; ich habe das Gefühl, dass ich mich gleich übergeben muss.
    »Ich habe es satt«, sagt er. »Ich habe euch alle so satt. Ich will weg.«
    Meine Finger krallen sich in die Luftpolsterfolie, die um die Armlehnen gewickelt ist. Ich beuge mich vor und atme schwer. Sein Gesicht kann ich nicht sehen, nur seine Faust, die sich fest um meine Seele geschlossen hat.
    »Du hast ja keine Ahnung, wozu dein Freund fähig ist, mein Junge. Nicht die geringste. Ich dagegen schon.«
    Er ballt die Faust noch fester zusammen, seine Knöchel werden weiß.
    »Und ich kann ihn dir geben. Ich kann dafür sorgen, dass er dir gehört.«
     
    »Oder«, sagt er, »wir können runtergehen, mein Junge, der Dämmerung entgegen, und ich begrabe dich so tief in den Tiefen der toten Seelen, dass du nicht mehr weißt, wo oben und unten ist. Glaubst du etwa, du kannst dich der Dämmerung stellen, wenn jemand deine kleine Hand hält, deine kleine Seele?«
    Ich schließe die Augen.
    »Es ist deine Entscheidung«, sagt er.
    »Hier geht es gar nicht um Jack«, sage ich. »Hier geht es um mich, um Endhaven und den ganzen Scheiß. Um Sie.«
    »Es ist deine Entscheidung«, sagt er, und es klingt wütend, verzweifelt.
    Ich senke den Kopf.
    »Nein«, sage ich.
    »Dann komm mit.«
    Seine rauen, behandschuhten Hände ziehen mich an den Schultern aus dem Stuhl hoch, und ich schüttle ihn ab, weiche zurück.
    »Lassen Sie mich in Ruhe. Ich weiß, wohin Sie gehen wollen.«
     
     
    Bedeutungen lösen sich auf ...
     
    Der Abend zieht von Osten herauf wie das Meer bei Flut oder wie ein Wintersturm, und ein graues Wirrwarr aus Wind, Regen, Nebel und Nacht legt sich über den Landesteg. Ich kann gerade noch erkennen, dass Jack auf dem Balkon seines ausgebrannten Strandbunkers steht und uns mit nachdenklicher Gelassenheit beobachtet.
    »Die Potenzierung der Entropie«, sagt der Lumpensammler. »Bedeutungen lösen sich auf ...«
    Er macht eine weit ausholende Geste, die den Himmel, das Meer, das Land und die Tiefen der hereinbrechenden Nacht einschließt.
    »Und die Welt war formlos und leer«, sagt er. »Willst du noch immer aus dem Vertrag aussteigen, mein Junge? Glaubst du, du kannst deine Seele auch ohne Anker bewahren?«
     
    Ich blicke in die Finsternis hinaus. Was bleibt mir anderes übrig? Hinter mir, an Land, klammert sich Jack mit den Händen an die Balkonbrüstung. Ich spüre, wie Panik in mir aufsteigt, als die Dämmerung von Osten heraufzieht. Mein Atem geht schneller, und meine Hände schließen sich um das
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