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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition)
Autoren: Hal Duncan
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»Du fürchtest dich weder vor ihm, noch vor der Dämmerung. Hilf mir.«
    Jack rollt sich auf den Rücken und starrt zur Decke hinauf.
    »Du musst mir helfen«, sage ich. »Du bist nicht wie wir. An dir ist etwas Besonderes. Das habe ich gesehen. Ich habe gesehen, wie du mitten in der Nacht auf dem Hügel standest. Ich weiß, dass dir nichts passieren kann. Ich weiß, was die Dämmerung mit uns anderen macht — ich habe es gesehen. Aber dich lässt sie ungeschoren. Wie ist es möglich, dass du da durchläufst? Wie? Warum? Warum hat die Dämmerung auf dich —«
    »Weil man nichts auslöschen kann, was nicht existiert«, knurrt er.
    Der Zorn in seiner Stimme trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Das Gefühl ist nur vorübergehend, aber in mir steigt auf einmal der Verdacht auf, dass ich ihn überhaupt nicht kenne, dass ich ihn nie kennen werde, dass das gar nicht möglich ist.
    Er steht auf und schlendert zu den zerrissenen Musselinvorhängen hinüber, die sich auf den Balkon bauschen, und schiebt sie beiseite.
    »Tut mir leid«, sagt er.
     
    Ich sitze auf der Bettkante, die Decken um die Schultern gelegt, die Arme um mich geschlungen, und beobachte ihn. Er steht einfach nur da. Eine lange Zeit.
    »Kannst du hier nicht eine Heizung einbauen oder so was?«, sage ich, um gegen die Stille anzukämpfen.
    »Ich spüre die Kälte nicht.«
    Nach einer Weile schüttelt er den Kopf.
    »Weißt du, ich könnte ihn töten — das würde mir leichter fallen, als du dir vorstellen kannst. Seinesgleichen kann man mit einem Wort töten. Aber an wessen Händen würde dann sein Blut kleben, an meinen oder deinen? Wie würde ich dann vor dir dastehen?«
    »Zwischen uns würde sich gar nichts ändern«, sage ich.
    Er sieht mich über die Schulter hinweg an, ein offener und ehrlicher Blick.
    »Doch. Alles würde sich ändern. Mach dir nichts vor. Glaubst du, ich wäre dann der Retter der Stadt? Der Held, der das böse Ungeheuer erschlagen hat? Jack der Riesentöter?«
    »Ich weiß es nicht ... alle hassen ihn.«
    »Und meine Fresse, wie würden sie mich erst hassen, wenn ich ihn ihnen wegnähme!«
    »Du redest, als würden wir ihn freiwillig ertragen; als hätten wir überhaupt eine Wahl.«
     
    »Man hat immer die Wahl, Tom. Das ist das höchste Gut des Menschen. Dir das begreiflich zu machen, ist die einzige Hilfe, die ich dir geben kann.«
    Er dreht sich zu mir um und lässt die Vorhänge wieder los.
    »Bleib bei mir, vergiss Endhaven, vergiss die hässlichen Schwestern und den Lumpensammler — vergiss, wie du hierhergekommen bist und wohin dein Weg dich führen mag. Bleib einfach bei mir, steh zu mir, selbstbewusst, und all ihre Abrechnungen und Urteilssprüche können dir nichts mehr anhaben. Oder geh zurück und tritt allein vor ihn hin wie ein getretener Hund. Wie auch immer, es ist deine Entscheidung. Es ist ganz allein deine Entscheidung.«
    »Jack, ich bin nicht wie du. Ich habe nicht — ich weiß es nicht — ich habe nicht, was du hast. Er könnte mich töten. Ich schulde ihm mein Leben. Wir alle schulden ihm unser Leben. Und jetzt will er, dass wir diese Schuld begleichen.«
    Ich sehe, wie seine Hand sich zur Faust ballt, wie seine Armmuskeln zucken.
    »Warum kannst du mir gegenüber nicht offen sein?«, frage ich mit gepresster Stimme.
    »Vielleicht bin ich nicht so stark, wie du denkst.«
     
    »Ich habe Angst, Jack. Ich habe einfach nur Angst.«
    Er kommt zu mir herüber, geht vor mir in die Hocke und legt mir die Hände auf die Knie.
    »Du muss keine Angst haben.«
    Lässt sie zu meinen Hüften hinaufwandern.
    »Geh alles ganz langsam an, eins nach dem anderen — das ist das ganze Geheimnis. Bleib eine Stunde hier, dann noch eine Stunde und noch eine. Tu so, als würdest du bald wieder zu ihnen zurückgehen, wirklich bald, schon morgen oder vielleicht nächste Woche oder die Woche danach oder nächsten Monat — sobald du dazu kommst, irgendwann, nie. Lerne zu leben, ohne dass dir eine Abrechnung droht. Lerne zu vergessen.«
    Mit der rechten Hand zieht er mir die Decke von der linken Schulter, streicht mir über die kleine rautenförmige Narbe, die mir vor langer Zeit eine Nadel mit schwarzer Tinte zugefügt hat, ein Skalpell, dessentwegen ein Fünfjähriger sich die Seele aus dem Leib schrie. Er schüttelt den Kopf, und als er sich vorbeugt, berührt sein blondes Haar meine Oberschenkel, seine Hände meine Taille.
    »Ich werde es versuchen.«
    Seine Zungenspitze leckt ganz sachte über meine
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