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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser
Autoren: Jilliane Hoffman
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Gewohnheitstäter zu schachern oder Kollegen anderer Abteilungen zu besuchen, hatte sie nie die Sicherheitsschleuse passiert, die zur Major Crimes Unit führte. Das Allerheiligste. Nicht dass ihre Plastikkarte ihr den Zugang dorthin verwehrt hätte, doch es hatte einfach keinen Grund gegeben. 
    Keiner ihrer Fälle hatte Details beinhaltet, für die sich irgendjemand bei Major Crimes interessierte – weder hatte es einen prominenten Angeklagten, noch ein berühmtes Opfer gegeben, einen brutalen Serienmörder oder ein verruchtes Lacrosse-Team. Und was die gesellschaftlichen Anlässe anging, so mischte sich die High Society der Spezialbereiche nicht mit den jungen Klägern unten vom Parkett. Wie in jedem Betrieb gab es auch bei der Staatsanwaltschaft ein unausgesprochenes Kastensystem unter den Kollegen: Die Abteilungsleiter speisten mit den Abteilungsleitern, Prozessanwälte lunchten mit Prozessanwälten, Aushilfskräfte futterten mit Aushilfskräften. Und in den fünf Minuten ihrer freien Zeit stopften sich die jungen Kläger vom Parkett ein paar Kroketten und Erdnussbuttersandwichs mit ihren jungen Kollegen rein, entweder direkt am Tisch im Gerichtssaal oder in der Cafeteria gegenüber. Im ersten Stock stieg sie mit einem Kerl aus dem Fahrstuhl, der entweder Drogendealer war oder Zivilfahnder beim Drogendepartment, der es noch nicht unter die Dusche geschafft hatte. Der tätowierte Kopf einer Königskobra zuckte böse grinsend aus dem Kragen seines T-Shirts hervor, die gebleckten Giftzähne auf seine Schlagader gerichtet. Ihr Träger lächelte Julia zu, als würden sie einander kennen, dann verschwand er den Flur hinunter in Richtung Berufsverbrechen. Zögernd lächelte sie zurück und hoffte, dass er ein Drogenfahnder war. Ihr eigenes Büro befand sich oben im zweiten Stock, doch sie wollte das Treffen mit Rifkin lieber gleich hinter sich bringen. Wenn Rifkin den Klappwagen mit den Kisten voller Gerichtsunterlagen sah, erinnerte er sich vielleicht, wie es war, 102 kleine Fälle mit sich herumzuschleifen, und hatte ein bisschen Mitleid mit ihr, bevor er sie zusammenstauchte, weil sie einem Richter mit einem aussichtslosen Fall das Leben schwermachte. Vor der Tür mit der Aufschrift Major Crimes blieb sie stehen. Sie wischte sich die Hände am Rock ab, holte tief Luft und zog ihre ID-Card am Sicherheitscheck durch den Schlitz. Die Tür öffnete sich mit einem Klicken, und sie betrat einen langen, spärlich beleuchteten leeren Flur, der genau wie der Rest des Gebäudes in einem deprimierenden Grauton gestrichen war. Kaum hatte sie die Schwelle übertreten, spürte sie den kollektiven Blick von acht Sekretärinnen, in deren Höhle sie unvermittelt gelandet war. Vor ihr eröffnete sich ein neonbeleuchteter Irrgarten aus Resopal-und Plexiglaskabinen, und sie fühlte sich wie ein Kind, das über die Wasserrutsche plötzlich am tiefen Ende des Beckens gelandet war. Jegliche Unterhaltung im Raum verstummte.
« Guten Tag», sagte Julia und versuchte zu lächeln.
« Ich möchte zu Charley Rifkin.»
« Erwartet er Sie?», fragte eine ältere Frau mit verbissenem Gesicht und teigigen Hängewangen. Irgendwo ließ jemand eine Kaugummiblase knallen. Auf dem Schreibtisch vor ihr stand ein roter Plastikzeigefinger, der auf einer Feder hin-und herschwang. Die Aufschrift auf dem Sockel lautete: Leg dich nicht mit Oma an.
« Ich glaube schon», antwortete Julia langsam.
« Meine Abteilungsleiterin sagte mir, Mr. Rifkin wolle mich sprechen.»
« Ach», erwiderte die ältere Frau, und ihre Wangen schienen noch weiter abzusacken.
« Sie sind die aus Richter Farleys Abteilung.» Das klang nicht gut.
« Ja, die bin ich.» Julia lächelte und wischte sich noch einmal so unauffällig wie möglich die Hände am Rock ab. Unglücklicherweise hatte sie die feuchten Hände ihrer Mutter geerbt – ein Fluch für die Karriere. Ihr Lächeln wurde immer angestrengter. Oma griff zum Telefonhörer, wählte eine Nummer und wandte sich ab.
« Sie ist da.» Dann bedachte sie Julia mit einem verächtlichen Blick und machte eine Kopf bewegung den Gang hinunter. Die Haut unter ihrem Kinn wabbelte wie der Kropf eines Truthahns.
« Zwei-null-sieben. Auf dem zweiten Flur nach rechts. Das letzte Büro auf der linken Seite.»
KAPITEL 5
    A LS JULIA an den Arbeitskabinen vorbeiging, folgten ihr die Blicke der Sekretärinnen stumm wie die Augenpaare auf den Gemälden eines Spukhauses. Der Flur zog sich endlos, und sie war mehr als erleichtert, als sie endlich aus
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