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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser
Autoren: Jilliane Hoffman
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für Wirtschaftsverbrechen seinen ersten Fall aufrief. Ihr Puls raste, in ihren Ohren pochte es, und ihre Hände zitterten. Ein Murmeln erhob sich in der Menge, und Julia spürte die Blicke ihrer Kollegen. Sie wollte nur noch raus aus diesem Gerichtssaal und laut schreien.
« Lass dich von ihm nicht auf die Palme bringen», flüsterte Karyn Seminara, ihre Oberstaatsanwältin, als sie ihr half, die Aktenkisten auf den Klappwagen zu laden. Julia sah auf und holte tief Luft, bevor sie etwas sagen konnte, das sie später bereuen würde. Karyn brachte keiner auf die Palme. Sie blieb immer gelassen, war nie an Konfrontation interessiert, und Farley hätte sie wahrscheinlich für die ideale Frau gehalten, wenn sie nicht dann und wann den Mund aufgemacht hätte. Seit über einem Jahr leitete sie seine Abteilung – sei es, weil jemand von oben meinte, dass sie mit ihrer besonnenen Art am besten mit dem Richter und seinen Wutanfällen zurechtkam, oder, was Julia eher für wahrscheinlich hielt, weil sie irgendwann mal jemandem ans Bein gepinkelt hatte. Die Freundschaft, die Julia und Karyn in den letzten vier Monaten geschlossen hatten, war eher oberflächlich und beruhte hauptsächlich auf einem gelegentlichen, halb obligatorischen Afterwork-Drink am Freitagnachmittag oder einem Cafè con leche nach Gericht. Oberflächlich, weil Karyn Wert darauf legte, mit jedem gut Freund zu sein, vor allem mit jedem in der Abteilung, was sie nicht unbedingt zur idealen Chefin machte. Wie Onkel Jimmy Julia am ersten Tag ihres ersten Jobs bei Dunkin’ Doughnuts beigebracht hatte:
« Freunde sind keine guten Chefs, und Chefs sind keine guten Freunde.» Und Jimmy musste es wissen. Sein eigener Onkel war angeblich Kapo in einer der New Yorker Mafiafamilien gewesen, bis ihm zwei seiner
« Freunde» eines Sonntagnachmittags in einer Brooklyner Muschelbar von hinten ein paar Kugeln in den Kopf gejagt hatten. Juüa atmete tief aus und schaute ihre Abteilungsleiterin an. Sie sah die Enttäuschung in Karyns schiefem Lächeln.
« Wenn ich jetzt sage, was ich denke, Karyn», antwortete sie leise, « setzt Farley mich morgen zu den Angeklagten auf die Bank.»
« Farley ist, wie er ist, Julia, daran wirst auch du nichts ändern. Aber wenn man bedenkt, wie rot sein Kopf gerade geworden ist, wird er die Richterbank wahrscheinlich eines Tages auf einer Trage verlassen», erwiderte Karyn lächelnd, dann fuhr sie nach einer kurzen Pause fort:
« Du bist eine gute Anwältin, Schätzchen, aber willst du diesen Fall wirklich ohne das Opfer durchziehen?»
« Ich habe keine Wahl.»
« Aber die Geschädigte hatte die Wahl – und sie ist nicht hier.»
« Wenn ich es ohne sie machen muss, bitte schön.»
« Und welchen Sinn hat das?» Julia warf einen Blick auf Letray Powers, der schadenfroh grinste.
« Wenn er rauskommt, geht er wieder auf sie los. Nur zielt er beim nächsten Mal vielleicht auf ihre Kehle.»
« Im Grunde weißt du doch, dass der Richter recht hat», sagte Karyn seufzend und zuckte die Schultern.
« Wenn ein Opfer die Aussage verweigert, wird es auch auf eine erneute Vorladung hin nicht vor Gericht erscheinen. Und wenn deine Geschädigte nicht gefunden werden will, wirst du sie nicht finden. Alles, was du erreichst, ist, dass Farley noch wütender wird. Warum lässt du ihn die Klage nicht einfach abweisen und reichst den Fall rüber an die Abteilung für häusliche Gewalt? Dann können die versuchen, den Fall ohne Opfer wieder vor Gericht zu bringen.» In den vier Monaten, seit Julia in der Abteilung war, hatte sie Karyn nicht einmal vor Gericht gesehen. Selbst eine bloße Anhörung kam selten vor. Karyn fand bei jedem Fall einen Haken, bei jedem Opfer ein Problem, bei jedem Angeklagten eine Ausrede. So war alles verhandelbar für sie, sogar Mord, und ihre Deals lagen bisweilen weit unter den gesetzlichen Richtlinien. Natürlich sah Karyn keinen Sinn darin, einen Fall von häuslicher Gewalt ohne Opfer weiterverfolgen zu wollen und das großzügige Angebot des Richters, den Fall abzuweisen, auszuschlagen. Ein Fall weniger auf dem engen Terminplan der Abteilung, und das ganz ohne eigene Schuld.
« Drüben hätten sie das gleiche Problem, nur schlimmer», sagte Julia schließlich, als sie den Wagen vollgeladen hatte.
« Schau dir den Typen an, Karyn. Wenn der hier rauskommt, marschiert er auf direktem Weg nach Hause.» Karyn verdrehte die Augen.
« Du kannst nicht alle Probleme dieser Welt lösen, Julia. Wie ich solche Fälle hasse. Man sollte sie
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