Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Untot mit Biss

Untot mit Biss

Titel: Untot mit Biss
Autoren: Karen Chance
Vom Netzwerk:
früh auf der Straße gewesen. Und im Gegensatz zu mir hatte er nur sich selbst anbieten können. Wenn ich ihn nach seiner Vergangenheit fragte, bekamen seine Augen einen sonderbaren Glanz, der mir Unbehagen bereitete, und deshalb vermied ich es, dieses Thema anzuschneiden. Aber wahrscheinlich handelte es sich um eine Variante der üblichen Angelegenheit. Die meisten Straßenkinder hatten die gleiche Geschichte zu erzählen: Sie waren gebraucht, missbraucht und dann mit dem Müll hinausgeworfen worden. Ich hatte gedacht, ihm einen Gefallen zu tun, als ich ihm mein Gästezimmer gab und außerdem dafür sorgte, dass er einen ordentlichen Job bekam. Aber ein Teil von Tonys Zorn war ein hoher Preis für sechs Monate Stabilität. Um Tomas’ Sicherheit zu gewährleisten, wäre es besser gewesen, ihn woanders unterzubringen, aber das ließ sich kaum bewerkstelligen – er hätte vermutlich den Eindruck gewonnen, dass ich ihn hinauswerfen wollte. Ein Teil des Problems bestand darin, dass sich keiner von uns dem anderen öffnete, und es half nicht, dass wir einen schwierigen Anfang gehabt hatten. Als ich an jenem Abend, an dem er bei mir eingezogen war, aus dem Bad kam, lag er nackt auf meinem Bett, das Haar wie ein großer Tintenfleck auf dem weißen Laken. Ich stand mit meinem Winnie-the-Pooh-Handtuch da und starrte ihn groß an, während er sich wie eine große Katze auf dem Federbett streckte, ganz Geschmeidigkeit und Anmut. Er war völlig unbefangen, und ich erkannte den Grund dafür-wie ein halb verhungertes Straßenkind sah er gewiss nicht aus.
    Ich hatte ihn nie nach seinem Alter gefragt, nahm aber an, dass er jünger war als ich. Was bedeutete, dass er für jenen besonderen Blick viel zu jung war. Gegen meinen Willen beobachtete ich, wie seine langfingrige Hand langsam von der Brustwarze bis zu den Lenden strich. Es war eine unmissverständliche Einladung, und es dauerte einige Sekunden, bis ich wieder einen klaren Kopf bekam und begriff, was vor sich ging. Offenbar glaubte er, für das Zimmer auf die Weise bezahlen zu müssen, an die er gewöhnt war. Auf der Straße gab es nichts gratis. Als ich Geld abgelehnt hatte, musste er angenommen haben, dass ich anderweitig bezahlt werden wollte. Ich hätte versuchen sollen, ihm zu erklären, dass ich mein ganzes Leben lang missbraucht worden war und gewiss nicht damit anfangen wollte, das jemand anderem anzutun. Wenn ich zu solchen Worten bereit gewesen wäre, hätten wir vielleicht das eine oder andere klären können. Stattdessen rastete ich aus und warf ihn aus dem Schlafzimmer, zusammen mit der Decke, die ich rasch über ihn geworfen hatte. Ich wusste nicht, was er davon gehalten hat, denn er kam nie auf jenen ersten Abend zu sprechen. Schließlich fanden wir zu einer mehr oder weniger entspannten Routine und teilten uns wie in einer ganz gewöhnlichen Wohngemeinschaft die Hausarbeit sowie das Kochen und Einkaufen. Aber wir hüteten beide unsere Geheimnisse. Manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck beobachtete – vielleicht wartete er darauf, dass ich ihn wie alle anderen zuvor verließ. Ich bedauerte sehr, dass ich genau das jetzt tun musste.
    »Hast du heute früher Schluss gemacht?« Tomas berührte mich an der Wange, und ich wich zurück, weil ich etwas weiter von den vertrauensvoll blickenden Augen entfernt sein wollte. Ich musste ihn enttäuschen, die Umstände zwangen mich dazu, aber ich freute mich ganz sicher nicht darauf, Kummer in seinem Gesicht zu sehen und zu beobachten, wie sich sein Vertrauen in Menschen auflöste, das er durch mich zurückgewonnen hatte.
    »Nein.« Ich trat aufs andere Bein und suchte nach Worten, die nicht nach einer persönlichen Zurückweisung klangen. Es war nicht seine Schuld, wenn mein Leben schon wieder den Abfluss hinunterging. »Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen. Bitte hör mir zu und mach, was ich dir sage, ja?«
    »Du gehst weg.« Es war mir ein Rätsel, woher er das wusste. Vielleicht sah er es mir an. Sicher erlebte er so etwas nicht zum ersten Mal.
    »Mir bleibt keine Wahl.« Wir gingen durch die Hintertür nach draußen und die Treppe zur Straße hoch. Viel zu sehen gab es nicht, aber wenigstens war es ruhiger. Die Luft roch nach Regen, es hatte genieselt, doch der Wolkenbruch, der sich am Nachmittag angekündigt hatte, ließ noch immer auf sich warten.
    Wenn ich mich beeilte, schaffte ich es vielleicht noch bis zum Busbahnhof, bevor es richtig zu gießen begann. »Ich habe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher