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Untitled

Untitled

Titel: Untitled
Autoren: Joachim Bessing
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als wenn dort die Lücken mit ADAC -Reiseatlanten und Guinness-Rekordbüchern gefüllt wurden. Oder, meiner Ansicht nach noch peinlicher: Mit den Belegexemplaren eigener Werke. Also fasste ich eine Rundmail an drei Getreue ab: Welche Bücher bedeuten euch noch immer etwas? Und all diese Titel übernahm ich sozusagen blind, denn was waren wir denn noch viel mehr als eine Summe all dessen, das wir gerne gelesen oder gemeinsam erlebt?
    Arno Schmidt schlug bekanntlich zudem noch vor: Ein Gemisch aus Scheiße und Mondschein.
    Da war etwas dran. Also machte ich mir eine Notiz, unbedingt noch herauszufinden, in welchem Text er das verwendet hatte.
    Quer über den Eugen-Rapp-Zyklus (genannt von Sebastian mit erneutem Hinweis auf den Titel von Peter Handkes Aufsatz zum Thema, damals, im dritten Winter nach meiner Geburt, in der Süddeutschen: Tage wie ausgeblasene Eier (irrsinnig schön!)) legte ich den großen Margiela-Bildband, der einst anlässlich der Retrospektive in Antwerpen erschienen war. Dessen quer liegend massiv weißerRücken (Henry Moore!) stellte einen zweiten Fluchtpunkt innerhalb der Komposition dar, die ich, als Lehre der Sainte Albus, auf gar keinen Fall zentralperspektivisch aufgebaut sehen wollte.
    Bei einem Versuch zu schlafen (warum eigentlich finden?) fiel mir im Bett herumliegend siedendheiß ein, dass ich die Musik komplett außer Acht gelassen hatte. Nun sollte das sogenannte Gemälde hinsichtlich des Genres wirklich keine Allegorie werden (sondern ein Genrebild mit dem Titel: Mädchen und Junge vor fremdem Bücherregal), aber wenn ich das Vorhaben der Entäußerung meines Erinnerungsbildes so gut wie nur möglich umsetzen wollte, müsste die Musik zumindest symbolisch repräsentiert werden. Denn es war mir nicht möglich, an Julia zu denken, ohne dass damit so zu nennende Musikgedanken losgingen. Also entweder konkret irgendwelche Songs, die wir für bedeutend befunden hatten, oder Aspekte unserer Debatten über Musik, die uns schließlich zu derartigen Befunden geführt hatten.
    Mit dem Bleistift, den ich eigentlich eigens auf dem Nachtgestell aufbewahrte, um mir in den Kalk der Wand notieren zu können, was ich von Träumen noch behalten hatte, begann ich eine Liste der CD -Rücken, die in dem Regal ständen. Das war ein Trick, gewiss, denn weder ich noch Julia besaßen, kauften oder hörten noch Musik, die auf physischen Datenträgern gespeichert war. (Hier in Cagnes ließ man sie an Schnüren von den Dachrinnen baumeln, um sich die Tauben vom Haus zu halten.) Aber da biss die Maus keinen Faden ab: MP 3s ließen sich nicht malen. Une larme des Reaktionären schadete nie. Vom Umfang her konnte diese Musikbibliothek entweder wie jene von Babel sein, die Borges berühmt gemacht hatte, oder radikal ideal, wie ich sie einmal bei Gerhard Merzim Kaminzimmer auf dessen italienischem Landsitz besichtigen durfte: Der hatte sich einen minimalistisch geformten Bücherschrank besorgt, gerade noch groß genug für ein paar schöne Ausgaben von Paul Valéry, Konrad Weiß, Plinius dem Jüngeren, Gottfried Benn, Octavio Paz und Ähnlichem. Das Übrige seiner Bibliothek hatte er verbrennen lassen. Unser Ideal einer Diskothek beanspruchte dann aber des verschärftesten Willens zur Reduktion trotzend noch immer 46 Songs
Anmerkung
. Oder wie Julia stets zu sagen pflegte: Musik war das Allerwichtigste.
    Um vier Uhr erwachte ich dann aus einem Traum, in dem ich Julias Telefonnummer vergessen hatte. Beziehungsweise: mir fielen nur noch verdrehte Kombinationen der Zahlenfolge ein. Es war eine verschärfte Version jenesKlassikers, in dem ich das Display meines iPhones zersplittert fand und unter extremem Zeitdruck versuchen musste, die Scherben in einem Gallert so zu arrangieren, dass ich mir beim Anwählen ihrer Nummer nicht die Fingerspitzen zerschnitt. Der Liste an der Wand fügte ich noch Pure Vernunft darf niemals siegen von Tocotronic hinzu.
    In dem Haus, in dem ich nun schon so lange lebte, gab es keine Anlage, an die ich das iPhone anschließen konnte, der Lautsprecher des iPads, auf dem ich schrieb, klang scheußlich – Musik hörte ich nach wie vor über die Ohrhörer, die Julia mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Meine schwedischen Nachbarn, die ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte, würden einst sagen: Er war ein stiller Mann.
    Obwohl mir Filme nichts bedeuteten, gab es einen, an den ich in den nächsten Tagen ohne Unterlass denken musste. Darin kam eine Bühnenschriftstellerin vor, die sich extrem schwer
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