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Untitled

Untitled

Titel: Untitled
Autoren: Joachim Bessing
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Heimweg immer auf jene Straße, an der Filbingers Haus sich befand. In meinen Kindheitserinnerungen bekamen diese nächtlichen Kontrollen eine wichtige Bedeutung. Die Maschinenpistolen Marke Heckler & Koch ebenso. Und das Tuch aus grauer Wolle, das in unserem Kofferraum lag, von dem es hieß, dass darauf die Einkäufe sicher stünden; und das wir, anderntags, als Unterlage für das Picknick im Freibad verwendeten. In dem Fernsehfilm hatte es diesen einprägsamen Moment gegeben, da wurde der Tod Gudrun Ensslins gezeigt, und sie rupfte, in dem Augenblick vor dem Sprung in die Schlinge, einen selbst gemachten Vorhang, gemacht aus der Pritschendecke, quer über eine Leine vor das Auge der Kamera. Hauchte sozusagen dahinter ihr Leben aus. Und ich fand das rätselhaft als Kind. Mit der Zeit wurde daraus ein: würdevoll. Im Taxi nach Cagnes-sur-Mer erkannte ich, dass der einzige Grund, mir niemals mein Leben nehmen zu können, eben darin bestand: dann läge ich ja hilflos, läge ich tot herum. Auf gar keinen Fall aber wollte ich, dass mich irgendjemand so sieht, in solch einer Situation. Wenn der das dann Julia erzählte – das überlebte ich nicht! Dyadisches Denken war doch angeblich die Voraussetzung für die Attacke auf das eigene Leben – bei mir verhinderte sie all dies. Zum Glück! Lebensmüdigkeit war wieder eines von diesen Worten, die ich leichtfertigerweise verwendetet hatte, bis es mir klar geworden war, auf welch präzise und zugleich schöne Weise hiermit ein seelischer Zustand beschrieben wurde, der sich partout nicht anders beschreiben ließ. Seit ich Julia kannte, hatte ich in kaum einer Nacht länger als drei Stunden am Stück geschlafen. Mit Müdigkeit kannte sich angeblich nur Peter Handke noch besser aus. War Lebensmüdigkeit einem anzusehen? Oder äußerte die sich eher in Vorhaben, beziehungsweise: dass man anscheinend keine mehr in petto hatte? Lebensmüdigkeit und der Schmerz des Vermissens zeigten sich vermutlich noch nicht einmal im MRT . Und wenn schon, angeblich, dann gab es auch wieder Forscher, und zu denen gehörte beispielsweise Julia, die sagten: Ah ja. Aber was da noch so feuern mochte, war womöglich doch nur irgendetwas. Mir war ja anfänglich sogar mal ein Gehirntumor prognostiziert worden, aufgrund der Datenlage, die ein solches bildgebendes Verfahren produziert hatte – war das vielleicht lange her!
    Die Gassen der Altstadt wanden sich um den gedachten Kern des Berges, um den herum die Häuser errichtet worden waren. Eigentlich wie ein Schneckenhaus. Nur an manchen Stellen waren diese steilen und schmalen Wege asphaltiert. Überall sonst bestand deren Belag aus Strandkieseln in schönen Mustern, in etwas wie Zement gesteckt. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich seit geraumer Zeit an einer Häuserwand auf der Montée de France lehnte, dem eigentlich am wenigsten schön bebauten Weg, der hinunter ans Meer führte, der aber wiederum die schönsten Aussichten hatte. Die mich in dem Fall aber nicht interessierten. Mitnichten also das Anwesen Nadine Gordimers, nicht der zwischen Schnellstraße und Schwedenkirche eingezwängte Friedhof, der unter anderem die Grabstätte Suzie Solidors enthielt, keine der Katzen, sondern einen Abschnitt des aus Strandkieseln gefügten Weges selbst. Es hatte sich mir aufgedrängt. Der Straßenbelag dieser Hohlkehle: Die Formation der Kiesel ergab eindeutig ein J. Aus einem Gebüsch, einer Hecke, drang ein Duft, der mich an Julia erinnerte – an die Gesamtjulia, nicht bloß an Untitled. Die Pflanze war mir unbekannt. Und die Duftempfindung traf mich auch deswegen mit solcher Wucht, weil es die Zeit der Jasminblüte war, von deren Hecken die meisten Anwesen umstanden waren; und weil ich vom Jasmin schier kotzen musste. Vor allem von dem Geruch dieses Tees in chinesischen Restaurants. Mir war klar, dass ich, aufspringend von der Stelle, an der ich das J betrachtet hatte, um daraufhin in einem Gebüsch zu veschwinden comme une chatte cagnoise – dass ich dabei war, einen Eindruck zu erzeugen, dass der Sprung in meiner Schüssel nun endlich in die Tiefe reichte. Doch ich wusste, dass ich diesem Duft unbedingt Folge leisten musste – bis an seine Quelle, bis zu dem Strauch, den Blumen, was auch immer es war. Und zwar durch den Jasmin hindurch – und dabei bloß nicht an Unica denken! Denn grundsätzlich war mir dieses Phänomen nun ja vertraut – beziehungsweise traute ich ihm phänomenologische Qualitäten im Sinne einer Zeichenhaftigkeit zu, sah darin
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