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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs
Autoren: Jack Kerouac
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Zigeunerlager. An Straßenecken zerlegten alte Frauen gekochte Kalbsköpfe und wickelten Fleischbrocken in Tortillas, die sie mit scharfer Soße auf Servietten aus Zeitungspapier servierten. Dies war die große und absolut wilde, überschäumende Stadt der Fellachenkinder, von der wir gewusst hatten, dass wir sie am Ende der Straße finden würden. Mit zombihaft hängenden Armen, offenem Mund und glänzenden Augen ging Dean durch die Straßen: Er vollführte einen verrückten und heiligen Rundgang, der erst im Morgengrauen endete, auf einem offenen Platz, wo ein Junge mit Strohhut auf dem Kopf mit uns lachte und plauderte und Fangen spielen wollte, denn ein Aufhören gab es nicht.
    Dann bekam ich Fieber und phantasierte und verlor das Bewusstsein. Dysenterie. Aus dem dunklen Strudel meiner Seele blickte ich auf, und ich wusste, ich lag in einem Bett zweieinhalbtausend Meter über dem Meeresspiegel auf dem Dach der Welt, und ich wusste, dass ich ein ganzes Leben, und viele mehr, in der armseligen atomistischen Hülle meines Fleisches verbracht hatte, und ich hatte alle Träume der Welt. Ich sah Dean, wie er sich über den Küchentisch beugte. Es war mehrere Abende später, und er war schon wieder im Begriff, Mexico City zu verlassen. «Was hast du vor, Mann?», stöhnte ich.
    «Armer Sal, armer Sal, ist einfach krank geworden. Stan wird sich um dich kümmern. Und nun hör zu und pass auf, falls du mich in deiner Krankheit hören kannst: Ich habe hier unten die Scheidung von Camille bekommen und fahre heute Nacht zu Inez zurück, nach New York, falls der Wagen es aushält.»
    «Alles noch einmal?», rief ich.
    «Alles noch einmal, mein Freund. Ich muss zurück in mein eigenes Leben. Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben. Ich bete, dass ich wiederkommen kann.» Ich presste die Hände auf meinen von Krämpfen geplagten Bauch und ächzte. Als ich wieder aufblickte, stand Dean, der edle Ritter, mit seinem alten verbeulten Koffer da und schaute auf mich herab. Ich erkannte ihn nicht mehr, und er wusste es, und er erbarmte sich und zog mir die Decke über die Schultern. «Ja, ja, ja, ich muss jetzt gehen. Lebe wohl, alter Fieber-Sal, goodby.» Und weg war er. Zwölf Stunden später begriff ich in meinem elenden Fieber, dass er fort war. Aber da fuhr er schon, allein, durch jene Bananenberge zurück, diesmal bei Nacht.
    Als es mir besserging, wurde mir klar, was für eine Ratte er war, aber ich musste auch verstehen, wie unendlich kompliziert sein Leben war, dass er nicht anders gekonnt hatte, als mich krank zurückzulassen, um mit seinen Weibern und seinem Weh weiterzumachen. «Okay, alter Dean, ich sage ja gar nichts.»

fünfter teil

Dean fuhr von Mexico City los, er sah Victor in Gregoria wieder und knüppelte die alte Karre den ganzen Weg bis Lake Charles, Louisiana, als schließlich das Heck des Wagens abfiel und auf die Straße knallte, wie er es immer vorausgesehen hatte. Also ließ er sich von Inez telegraphisch das Geld für ein Flugticket schicken und legte den Rest des Weges im Flugzeug zurück. Als er mit den Scheidungspapieren in der Hand in New York eintraf, fuhren er und Inez sofort nach Newark und ließen sich trauen; und noch am gleichen Abend, nachdem er ihr gesagt hatte, dass alles in Ordnung sei, sie brauche sich überhaupt keine Sorgen zu machen, nachdem er logisch argumentiert hatte, wo doch nichts als unabsehbarer Kummer und Schweiß war, sprang er auf einen Bus und brauste wieder los, quer über den schrecklichen Kontinent nach San Francisco, um mit Camille und den zwei kleinen Mädchen zu leben. Er war jetzt dreimal verheiratet, zweimal geschieden und lebte mit seiner zweiten Frau.
    Ich machte mich im Herbst auf die Rückreise von Mexico City. Eines Abends, gleich hinter der Grenze bei Loredo, in Dilley, Texas, stand ich auf dem heißen Asphalt unter einer Bogenlampe, an der die Sommerfalter zerklatschten, als ich das Geräusch von Schritten in der Dunkelheit hinter mir hörte, und siehe da, ein hochgewachsener alter Mann mit wallendem weißem Haar kam mit einem Sack auf dem Rücken dahergestapft und sagte, als er mich im Vorübergehen sah: «Gehe hin und beweine des Menschen Los.» Womit er zurück ins Dunkel stapfte. Bedeutete dies, dass ich endlich zu Fuß meine Pilgerreise über die dunklen Straßen Amerikas antreten sollte? Ich sträubte mich und eilte nach New York, und eines Abends stand ich auf einer dunklen Straße in Manhattan und rief zum Fenster eines Lofts hinauf, wo, wie ich
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