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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs
Autoren: Jack Kerouac
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gequälten amerikanischen Koffer – und zog eine Armbanduhr hervor. Er zeigte sie dem Mädchen. Sie jauchzte vor Freude. Staunend drängten die anderen näher. Dann suchte Dean in der offenen Hand der Kleinen nach dem «schönsten und reinsten und kleinsten Kristall, den das Kind selbst am Berg für mich gepflückt hat». Er fand ein Stückchen, nicht größer als eine Waldbeere. Und er gab ihr die baumelnde Armbanduhr. Die andern rundeten wie Chorknaben die Münder. Das glückliche kleine Mädchen drückte die Uhr an ihr zerschlissenes Hemd. Sie streichelte Deans Hand und dankte ihm. Wie er dort zwischen den Mädchen stand und sein knochiges Gesicht zum Himmel reckte, um nach dem nächsten und höchsten und letzten Bergpass Ausschau zu halten, wirkte er wie der Prophet, der zu den Menschen herabgekommen ist. Dann stieg er wieder ein. Die Kinder ließen uns ungern fahren. Noch lange, während wir eine gerade Bergstrecke hinaufrollten, liefen sie uns winkend nach. Dann kam eine Kurve, und wir verloren sie für immer aus den Augen – und sie liefen noch immer. «Ach, es bricht mir das Herz!», jammerte Dean und hämmerte sich mit der Faust auf die Brust. «Wie weit gehen sie in ihrer Treue und ihrem Staunen? Was wird aus ihnen werden? Würden sie uns die ganze Strecke bis nach Mexico City folgen, wenn wir langsam genug führen?»
    «Ja», sagte ich, denn ich wusste es.
    Wir kamen in die schwindelerregenden Höhen der Sierra Madre Oriental. Die Bananenstauden leuchteten goldgelb im weißen Dunst. Breite Nebelschleier schwebten jenseits der Steinmäuerchen über dem Abgrund. Tief unter uns zog der Moctezuma ein feines goldenes Band durch eine grüne Dschungelmatte. Exotische Ortschaften an Kreuzungen auf dem Dach der Welt zogen vorbei, in Ponchos gehüllte Indianer blickten unter Strohhutkrempen und rebozos hervor. Dichtes, dunkles, uraltes Leben. Mit Habichtaugen musterten sie Dean, der ernst und wie besessen über seinem Lenkrad hing. Alle streckten uns die Hände entgegen. Von den fernen Bergen, von noch höher gelegenen Orten waren sie herabgestiegen, um ihre Hände auszustrecken nach etwas, das die Zivilisation ihnen, wie sie glaubten, geben konnte; und nie ließen sie sich träumen, wie trostlos deren armselige, gescheiterte Illusionen waren. Sie wussten nicht, dass eine Bombe in die Welt gekommen war, die alle unsere Brücken und Straßen sprengen und zu Geröll zermahlen konnte; dass womöglich auch wir eines Tages so arm sein würden wie sie und wie sie die Hände ausstreckten. Unser klappriger Ford, ein Ford aus den aufstrebenden dreißiger Jahren Amerikas, rollte an ihnen vorbei und verschwand in einer Staubwolke.
    Wir hatten die Steigung zum letzten Hochplateau erreicht. Die Sonne war golden, der Himmel knallblau und die Wüste mit ihren Bachbetten ein Chaos von Sand und glühender Leere und jähen biblischen Baumschatten. Jetzt schlief Dean, und Stan fuhr. Schafhirten tauchten auf, wie in Urzeiten in lange fließende Gewänder gehüllt, die Frauen mit gelben Flachsbündeln auf dem Rücken, die Männer mit Stecken. Unter ausladenden Bäumen in der gleißenden Wüste saßen die Schafhirten beisammen, und die Schafe mühten sich in der Sonne und wirbelten Staub auf. «Mann! Mann!», schrie ich Dean zu. «Wach auf und sieh dir die Schafhirten an, wach auf und sieh dir die goldene Welt an, aus der Jesus kam, sieh es mit deinen eigenen Augen, damit du es verkünden kannst!»
    Er schoss hoch, warf einen Blick auf das Bild unter der rötlich verblassenden Sonne und sank zurück, um weiterzuschlafen. Als er aufwachte, beschrieb er es mir in allen Einzelheiten und meinte: «Ja, Mann, wie gut, dass du mich geweckt hast. Oh, Gott, was soll ich machen? Wohin gehe ich?» Er rieb sich den Bauch, er blickte mit seinen geröteten Augen zum Himmel auf und war den Tränen nah.
    Das Ende unserer Reise stand bevor. Weite Felder dehnten sich zu beiden Seiten der Straße; ein stattlicher Wind blies über die verstreuten, riesigen Haine und über die alten Missionshäuser, die sich in der Abendsonne lachsrot färbten. Die tiefhängenden großen Wolken waren rosafarben. «Mexico City im Abendrot!» Wir hatten es geschafft, insgesamt gut dreitausend Kilometer – von den nachmittäglichen Gärten Denvers bis zu diesen weiten biblischen Regionen der Welt, und jetzt waren wir drauf und dran, das Ende der Straße zu erreichen.
    «Wollen wir unsere Insekten-T-Shirts wechseln?»
    «Nein, wir lassen sie an, bis in die Stadt, hol’s der
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