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Unternehmen CORE

Unternehmen CORE

Titel: Unternehmen CORE
Autoren: Paul Preuss
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er seitlich nach einem Granitfelsen, der so rund war wie eine Bowlingkugel. Versuchsweise rüttelte er daran, dann etwas stärker.
    Sollte er es wagen? Den Sprung machen? Wenn er abrutschte, würde es ihn töten, zumindest einige Knochen brechen; an Flucht war dann nicht mehr zu denken.
    Tief atmete er die kalte Luft ein, schwang seinen Körper zur Seite und zielte mit dem Schritt auf den vorstehenden runden Felsen, wo er hart aufschlug. Er drückte den Brustkorb gegen die Geröllwand und versuchte, sich festzukrallen. Schweiß rann ihm in die Schnittwunden unter dem Polo-Shirt; es juckte und stach. Seine Gelenke und nackten Knie waren aufgeschürft, von einer dicken Lehmschicht umgeben, eine Mischung aus Blut und Dreck, die im Mondlicht dunkel schimmerte.
    Seine Beine zitterten wie Espenlaub; er drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Er mußte sich beruhigen, mußte sich zureden, das gesamte Gewicht dem runden Felsen anzuvertrauen – und es darauf ankommen zu lassen. Seine Füße baumelten frei.
    Bereits vorher hatte er erwartet, die Sandalen zu verlieren. Und seine Uhr, deren Lederband beinahe ganz durchgescheuert war. Sogar seine Shorts, die nun mit Kiesel und Sand gefüllt waren. Nach und nach hörte er auf, sich um diese Dinge zu kümmern. Und wenn er nackt hier entkommen würde, wäre er dankbar.
    Vor langer Zeit, als er zehn Jahre alt war, hatten seine Eltern ihn zu einem Ferientrip in den Südwesten mitgenommen. Sein Vater und seine Mutter hatten während der gesamten Reise eine stumme Auseinandersetzung, Leidy war daher die meiste Zeit allein. In Bandelier, hinter Los Alamos, konnte er ihnen entkommen, schlüpfte unter dem Zaun hindurch und folgte den alten Stützen entlang des Pfades, der mit »Betreten verboten« markiert war – direkt hinauf zu den Felsen, wo die Anasazi in Höhlen gelebt hatten. Die Felsen der Klippe verwirrten ihn. Sie waren aus Tuff, vulkanischer Asche, die so weich war, daß er sie mit seinen Fingernägeln aushöhlen konnte …
    Mit seiner linken Hand erneuerte er den Griff um den schwarzen Schiefer. Mit der Rechten scharrte er im Gestein über ihm und überschüttete sich mit losem Sand und Kieseln. Zum Teufel mit den Männern dort unten. Wenn sie ihn erschießen wollten, hätten sie es schon längst getan. Nachdem er eine Vertiefung, die groß genug war, um sein Knie fassen zu können, ausgehöhlt hatte, sammelte er seine ganze Kraft und zog den linken Fuß unter seinem Arsch nach oben, auf die Brustwarze der Mutter Natur.
    Als er sein rechtes Knie zur Vertiefung schob, die er dafür ausgekratzt hatte, spürte er den Schiefer wegbrechen, hörte ihn die Klippe hinunterpoltern, während er seine rechte Hand wegzog, kurz bevor das Knie in der Vertiefung landete. Mit beiden Händen klammerte er sich an das Geröll. Sein linker Fuß – wunderbarerweise noch immer mit Sandale – bebte auf dem Felsvorsprung.
    Die rechte Hüfte begann wieder zu zittern, doch der Sand darunter hielt. Vorsichtig begann er einen Halt für die rechte Hand zu graben. Er keilte sich dort ein und begann einen neuen Halt für das linke Knie.
    Er arbeitete sich die Geröllbank hinauf, abwechselnd eine Hand, ein Knie. Es kam ein Moment, wo er die Entfernung nach oben nicht mehr abschätzen konnte; seinen Augen erschien sie kurz zu sein, den müden Beinen aber unendlich weit. Er konzentrierte seine Kraft und Aufmerksamkeit; er bewegte den Fuß dorthin, wo das Knie gewesen war.
    Von oben vernahm er ein klapprig-tönendes Geräusch, von der Glocke um den Hals eines Tieres. Er wartete, bis die Glocke sich entfernt hatte und ihn nur noch von weitem quälte. Er sah zum Rand hoch; der Schotter war von dunkler Firnis, anders als das helle Zeug, das er hochgeklettert war, und er dachte, daß er es vielleicht schaffen konnte. Ein letzter Sprung. Er wartete, bis alle Rhythmen übereinstimmten, Herzschlag und Atem und die runde Schwingung des Mondes im leuchtend-schwarzen Himmel.
    Es war weniger ein Sprung als ein Strampeln, aber er brachte ein Bein hinauf und zog seinen Körper mit aller Kraft nach. Kiesel stürzten über die Kante nach unten.
    Rutschte er ab, fiel er?
    Nein. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf kleinen Kieselsteinen, die in sein Fleisch schnitten. Er wurde von seinem Gewicht gegen sie gedrückt, nicht durch seine Angst.
    Der kalte scharfe Kies vor seinen Augen besaß die Patina von Wüstenfirnis, von mondbeschienener bronzener Farbe. Kleine helle Blumen wuchsen zwischen den Steinen, unzählbare zierliche
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