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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich
Autoren: Peer Steinbrück
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sprach ich unter anderem auch von einem »Schleswig-Holstein-Syndrom« - nämlich der Erfahrung aus den vier gescheiterten Wahlgängen von Heide Simonis als Ministerpräsidentin Mitte März 2005; seither könne es nicht mehr als sicher gelten, dass die eigene Fraktion ausnahmslos, zu 100 Prozent, die eigene Kandidatin oder den eigenen Kandidaten wähle. Das war im hessischen Fall weniger hellseherisch, als es sich heute anhört, sondern hatte - jenseits irgendwelcher Verschwörungstheorien - von vornherein eine hohe Wahrscheinlichkeit.
    Die seit Willy Brandts Zeiten eingenommene Linie der Bundes-SPD, den Landesverbänden freie Hand bei der Koalitions- und Regierungsbildung zu lassen, missverstanden einige hessische SPD-Vertreter dahingehend, dass die Bundes-SPD automatisch billigen müsse, was sie in eigener Verantwortung für richtig hielten. Davon war ich aber weit entfernt. Die Auswirkungen ihres Beschlusses auf die Bundesebene der SPD hielt ich für so gravierend, dass ein Verschweigen dieser Bedenken nicht in Frage kam. Die Spannungen kulminierten nach einem Interview im Stern vom 28. August 2008, in dem ich sagte, dass ich die Risiken der politischen Szenarien in Hessen für unvertretbar hielte. Die entscheidende Passage, die den Schattenminister für das Wirtschaftsressort in einem Kabinett Ypsilanti und - nicht zu vergessen - Träger des alternativen Nobelpreises, Hermann Scheer, in Wallung brachte, lautete: »Wir stehen zwischen Pest und Cholera. Wenn Andrea Ypsilanti zur Wahl als Ministerpräsidentin antritt und verliert, wird das sie selbst, die SPD in Hessen und die Bundes-SPD vor der Bundestagswahl schwer beschädigen. Wird sie gewählt, ist sie abhängig von der Linken und den Traumata von Herrn Lafontaine. Sie begibt sich in die Hände einer Partei, die Einfluss ohne Verantwortung, ohne jede Verpflichtung hätte, die wöchentlich dafür sorgen kann, dass Regierungsfähigkeit wieder verlorengeht.« Das wurde als Verrat angesehen - eine Denkweise, die noch andere Blüten treiben sollte.
    Dieses Interview gab ich dem Stern exakt drei Wochen nach einem Treffen, zu dem der Parteivorsitzende Kurt Beck Andrea Ypsilanti, Andrea Nahles und mich als seine Stellvertreter (Frank-Walter Steinmeier war verhindert) ins Gästehaus der rheinlandpfälzischen Landesregierung in Mainz eingeladen hatte. Kurt Beck, Andrea Nahles und ich sprachen in gleicher Weise - allenfalls in unterschiedlichen Nuancen - die Risiken eines »zweiten Versuches« an. Andrea Ypsilanti schien davon nicht unbeeindruckt, fand aber dennoch die Argumente für ihre Vorgehensweise stichhaltiger. Weder war die Tonlage gereizt, noch gab es eine Art Instruktion. Man ging in der Annahme auseinander - jedenfalls kann ich das von mir sagen -, die Abwägung von Risiken und Chancen in der Führung der hessischen SPD sei noch nicht abgeschlossen, sodass darüber weiter geredet werden könne. Drei Tage später erreichte mich im bayerischen Kommunalwahlkampf die Nachricht, Andrea Ypsilanti strebe in einem zweiten Anlauf die Wahl zur hessischen Ministerpräsidentin an.
    Ein halbes Jahr zuvor, nach einem Wahlkampfeinsatz in Hamburg, sechs Tage vor der Bürgerschaftswahl am 24. Februar 2008, hatte Kurt Beck auf Drängen der hessischen SPD über die mögliche Duldung eines rot-grünen Kabinetts in Hessen durch die Linkspartei vor mehreren Journalisten räsoniert und das Thema, den Gepflogenheiten der SPD entsprechend, zur Sache des verantwortlichen Landesverbands der SPD erklärt. Er dürfte nicht einmal geahnt haben, dass daraufhin eine Lawine zu Tal raste, die eine sehr breite Schneise in das Selbstbild und in die Wahrnehmung der SPD schlug. Ich weiß bis heute nicht, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich der Einladung gefolgt wäre und ihn und Michael Naumann, den SPD-Spitzenkandidaten, an diesem Montagabend zu dem Hintergrundgespräch in den Hamburger Ratskeller begleitet hätte, statt vorzeitig nach Berlin zurückzukehren. Nur so viel steht fest: Vom Hamburger Ratskeller führte ein direkter Weg zum Schwielowsee und von dort in den Bundestagswahlkampf.
    Auch dieser Teil der Geschichte ist inzwischen geschrieben. Worum es im Kern ging, war erstens ein gebrochenes »Richtungsversprechen« und eine kontrafaktische Sprache der SPD: Ein Wortbruch ist kein Wortbruch mehr, sobald er einem höheren Zweck dient. Zweitens taten sich Parallelwelten in der SPD auf, die sich über den einen Grundkonflikt der Bündnisfrage definierten. Die SPD verlor darüber aus
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