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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich
Autoren: Peer Steinbrück
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Auflösung. Wichtig ist, dass dieser Drache heute - anders als in dem Jahr 2007/08 - an einer kurzen Kette zu liegen scheint.
    Mehrere Vorgänge und Ereignisse hatten zwischen dem Herbst 2007 und dem Herbst 2008 dazu beigetragen, die SPD in eine gefährlich abschüssige Lage zu bringen. Für sich genommen, war keiner dieser Vorfälle spektakulär. Aber wie nicht selten in der Politik verdichteten sie sich zu einem gefährlichen Gemisch mit Explosionsgefahr. Es begann mit der Verlängerung der für das Arbeitslosengeld I (ALG I) geltenden Bezugsdauer Anfang Oktober 2007 im Vorfeld des Hamburger SPD-Parteitags Ende desselben Monats. Mit einer anderen Vorgeschichte und in einem anderen politischen Umfeld wäre daraus kaum ein Funkenflug entstanden. Aber die Herabsetzung dieser Bezugsdauer auf zwölf Monate (mit Ausnahmen) war Bestandteil der Hartz-Reformen und entsprach ihrer politischen Logik. Insofern war dies nicht nur die handwerkliche Nachjustierung einer Stellschraube. Der Teil der SPD, der in der Agenda 2010 und insbesondere in den Hartz-Reformen neoliberales Gedankengut witterte, verstand diese Korrektur als Einladung, dass noch viel weitergehende Änderungen, wenn nicht gar eine Remedur des ganzen ungeliebten und bekämpften Reformpakets möglich sein könnten.
    Die Tür war einen Spalt weit geöffnet worden, und der entstandene massive Luftzug drohte sie völlig aufzureißen. Da half es auch wenig, dass der Parteivorsitzende Kurt Beck in diesem Zusammenhang von einer »Weiterentwicklung der Agenda 2010« sprach, im Gegenteil. Die Gegner der Agenda wollten keine Weiterentwicklung, sondern definitiv eine Revision der Arbeits- und Sozialreformen; ihre Ankündigung vom Oktober 2007, auch die Rente mit 67 müsse überdacht werden, hallt bis heute nach. Sie sahen in der »Weiterentwicklung« die Einflugschneise für ihr Begehren, das Rad nicht nur um einige Grade zurückzudrehen, sondern ganz abzubauen. Die Korrektur des ALG I wurde vom überwiegenden Teil der Partei als Befriedungssignal an den Hamburger Parteitag verstanden. Weite Teile der Öffentlichkeit und der Medien interpretierten sie als Signal der Distanzierung der SPD von ihrem Reformkurs.
    Aber damit nicht genug. SPD-Kabinettsmitglieder mit Franz Müntefering an der Spitze stellten sich in der großen Koalition gegen gleichgerichtete Tendenzen in der CDU, die Bezugsdauer des ALG I wieder zu verlängern, und erläuterten der Kanzlerin, dass etwas ins Rutschen käme, wenn die CDU die SPD links zu überholen versuche. Jetzt überholte sich in einem plötzlichen Manöver die SPD selbst - und schwächte ihre Minister bis hin zum Vizekanzler. Seinen Rücktritt als Vizekanzler und Bundesminister zwei Wochen nach dem Hamburger Parteitag hat Franz Müntefering mit zu respektierenden privaten Gründen erklärt. Aber die sich abzeichnende Tendenz, dass die Kabinett-SPD mit den bekanntesten Gesichtern der Partei nicht mehr mit der SPD-Parteizentrale zusammenzudenken war, mag dabei zumindest am Rande auch eine Rolle gespielt haben.

    Szenenwechsel. Bei der hessischen Landtagswahl am 27. Januar 2008 hatte die SPD unter ihrer Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti zwar einen grandiosen Wahlerfolg errungen, aber mit 3500 Stimmen unter dem Ergebnis der CDU von Roland Koch eben keinen demokratischen Wahlsieg. Wenige Tage später versenkte die Spitze der hessischen SPD das Wahlversprechen, nicht mit der Linkspartei zu paktieren. Die Geschichte der folgenden zwölf Monate bis zur Neuwahl in Hessen, bei der die SPD eine handfeste Niederlage hinnehmen musste, ist mit allen immer noch nachwirkenden Kabalen, Abgründen und Verletzungen beschrieben worden.
    An diesen Verletzungen war nach Auffassung der hessischen SPD - jedenfalls der damaligen Führung - auch ich beteiligt. In der Tat: Bereits in einer Sitzung des Parteivorstands Ende Februar 2008, einen Monat nach der hessischen Landtagswahl, rasselten die hessischen Vertreter und ich zusammen. Ein Grund lag darin, dass ich empfahl, nicht von einem Wahlsieg zu sprechen, und mich in diesem Sinne auch in einem Interview geäußert hatte; das Publikum interpretiere den Abstand von 3500 Stimmen anders und habe ein feines stilistisches Gespür für das kontrafaktische Politdeutsch. Meine Auffassung kollidierte mit dem gefühlten Wahlsieg der hessischen Vertreter.
    Wesentlicher Anlass für den Dissens aber waren meine Hinweise auf die erheblichen Risiken, eine Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei zu etablieren. Dabei
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