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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich
Autoren: Peer Steinbrück
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Fähigkeit und Bereitschaft zur Integration von ausgegrenzten sozialen Milieus,
    * das Auftrumpfen einer digitalen Boheme einerseits und die Deklassierung eines neuen, digitalen Analphabetentums andererseits
    - und nicht zuletzt das fehlende Angebot an Arbeit zur Sicherung eines auskömmlichen Lebens, aber auch als sinnstiftende und soziale Anerkennung begründende Tätigkeit.

    Halten wir uns an das vertraute Bild der Gesellschaftspyramide, sieht das Ganze so aus: An der Spitze findet sich eine Globalisierungselite, eine Schicht von Gut- und Hochverdienern, die sich in der Konkurrenzwirtschaft auskennen und ihre Angebote zu nutzen wissen. Sie erzeugen die ökonomische Dynamik und empfinden Beschleunigung als Lebensqualität. Sie sind nicht auf öffentliche Güter und Dienstleistungen angewiesen und können sich Individualität bequem leisten.
    In der Mitte der Gesellschaft befinden sich die Hauptlastträger des sozialstaatlichen Versprechens. Sie haben in den letzten Jahren kaum eine materielle Besserstellung erfahren, wohl aber Verlust- und Abstiegsängste kennengelernt. Sie sind der Stabilitätsanker der Gesellschaft. Ohne Kleinbürger keine intakte Sozialgemeinschaft, weniger Ehrenamt, weniger Nachbarschaftshilfe. Ohne die Vielzahl von Leistungsträgern in diesem Segment der Gesellschaft keine ökonomische und soziale Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ohne die kleinen und mittleren Unternehmen wäre die Wirtschaftsleistung deutlich schwächer und unsere Wirtschaftsstruktur sehr viel anfälliger. Wenn diese Mitte erodiert, kriegen wir richtige Probleme.
    Unten, am Fuß der Gesellschaftspyramide, finden sich diejenigen, die von der Beschleunigung aus der Kurve getragen wurden. Sie suchen in der Abwehr von Veränderungen und Fremdem Halt. Ihre Kinder haben kaum Aussicht auf faire Bildungszugänge. Ihre eigene Chance auf gesellschaftliche Teilhabe oder einen sozialen (Wieder-)Aufstieg ist gering - oder sie haben ihn sich selbst verbaut. Einige richten sich als Transferempfänger in der zweiten oder sogar dritten Generation ein. Sie alle werden vom Staat alimentiert, aber kaum befähigt, aus ihrer Situation herauszukommen.
    Die Finanzmarktkrise hat den gesellschaftlichen Fliehkräften weiter Auftrieb gegeben. Abgesehen von der ungeheuren Vermögensvernichtung, den Übersprungseffekten auf die reale Wirtschaft, den staatlichen Stützungsmaßnahmen mit der Folge unvorstellbarer Haushaltsdefizite, der Erschütterung der globalen Finanzmarktarchitektur und ganzer Nationalstaaten, hat die Krise nämlich auch gesellschaftliche Implikationen. Ihre Entstehung hat mit dem Versagen von Eliten, einer unanständigen Bereicherungsmentalität und dem Verlust von Maß und Mitte zu tun. Für viele Bürger stellt sich über solchen Verwerfungen die Frage nach der Legitimation unseres Wirtschafts- und Ordnungsmodells. Oder altmodischer ausgedrückt: Die Ursachen und Folgen der Krise verletzen das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen. Einige sprechen von einem »Glutkern der Empörung«. Das ist eine kaum messbare, politisch aber höchst relevante Qualität.
    Die Geschichte der großen Wirtschafts- und Finanzkrisen der letzten Jahrhunderte zeigt, dass sich eine Krise dieser Größenordnung in ihren Auswirkungen nicht auf die ökonomische Sphäre beschränkt. Solche Krisen haben immer auch politische, gesellschaftliche und mentale Veränderungen nach sich gezogen. Deshalb unterliegen all diejenigen einer Illusion, die glauben, im großen Monopoly-Spiel einfach »zurück auf Los« gehen und so weitermachen zu können wie bisher. Wie stark die Krise sich auch und gerade auf das gesellschaftliche Bewusstsein auswirkt, wird schon daran deutlich, dass eine überwältigende Mehrheit der Bürger glaubt, die eigentlichen Verursacher der Krise zu kennen. Allerdings erwarten die meisten nicht, dass die Verantwortlichen auch zur Kasse gebeten werden, sondern vermuten, dass sie im Zweifel selbst die Dummen sind. Es stellt sich die Frage, ob die Mehrheit diese Entwicklung akzeptiert.
    Das Fieberthermometer zeigt unübersehbar, dass es - pathetisch gesprochen - um den inneren Frieden, die Friedfertigkeit und Toleranz unserer Gesellschaft, nicht so bestellt ist, wie es sein sollte. Zahlreiche Indizien deuten eine soziale Destabilisierung, Verstörung und Gleichgültigkeit gegenüber unserem Gemeinwesen an.
    Erschreckend ist vor allem der Verlust an Vertrauen in den Gestaltungswillen und die Lösungskompetenz von Politik. Damit aber
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