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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich
Autoren: Peer Steinbrück
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das gegenüber früheren Jahrzehnten gestiegene Berufseintrittsalter, die geringere Lebensarbeitszeit und die deutlich gestiegene Lebenserwartung.
    Alle drei Entwicklungen wecken zweifellos auch positive Assoziationen. Längere Ausbildungszeiten entsprechen den Anforderungen einer Wissensgesellschaft. Die Möglichkeit eines vorzeitigen Ruhestands bei kaputten Knochen, Erschöpfung oder auch in einer beruflichen Sackgasse eröffnet Perspektiven für eine neue Lebensgestaltung im Alter. Ein längeres Leben ist seit je der Traum der Menschheit, auch wenn manche die Segnungen des medizinisch-technischen Fortschritts als ambivalent und das hohe Alter, mit einem Wort des amerikanischen Schriftstellers Philip Roth, als »ein Schlachtfest« empfinden.
    Allerdings laufen alle drei Entwicklungen darauf hinaus, dass zum einen weniger Beiträge in den Topf kommen und zum anderen der Topf länger in Anspruch genommen wird. Auch diese Gleichung entzieht sich dem Zugriff politischen Gutdünkens. Die Frage, wie es um die Produktivität und die Innovationsfähigkeit - nicht nur in einem wirtschaftlich-technischen Sinne - einer Gesellschaft bestellt ist, in der die Arbeitsgemeinschaft 60 plus einen höheren Anteil gewinnt als die Arbeitsgemeinschaft 30 minus, ist nicht nur spannend, sondern von existenzieller Bedeutung. Wird eine älter werdende Gesellschaft automatisch weniger neugierig und innovativ? Noch spannender ist allerdings die Frage, wie sich Zukunftsinteressen durchsetzen lassen, wenn die Platzhalter der Gegenwartsinteressen - über den Daumen gepeilt alle »Kohorten« im Alter von über 50 Jahren - in der Bevölkerung und insbesondere in den Parlamenten die Mehrheit stellen.
    Diese Platzhalter der Gegenwartsinteressen sind besser organisiert als die jüngeren Generationen, die sich um ihre Existenz und Familiengründungen kümmern. Die Älteren haben einsatzbereite Bataillone mit hoher Feuerkraft hinter sich und wissen um das Lindenblatt auf dem Rücken von Abgeordneten, wenn diese gegen die Interessen der Mehrzahl der Wähler ihres Wahlkreises stimmen sollten. Dass nachfolgende Generationen die Last einer steigenden Staatsverschuldung zu tragen haben, ist ihnen, abstrakt gesehen, natürlich nicht egal. Aber wehe, es wird konkret. Zum Beispiel bei der Rente. Die »Rentengarantie« der großen Koalition vom Mai 2009 ist ein klassisches Indiz für die Bedienung von Gegenwartsinteressen, nachdem bereits zuvor der sogenannte Riester-Faktor und der Nachhaltigkeitsfaktor zugunsten der heutigen Rentnergeneration ausgesetzt worden waren. Auf meine eigene Rolle dabei komme ich später im Buch zurück.
    Diejenigen, auf denen als Beitrags- und Steuerzahler die Hauptlast des Sozialstaatsversprechens liegt, sind gleichzeitig diejenigen, die uns mit ihren Fähigkeiten und ihrer Motivation ökonomisch auf der Höhe halten müssen. Wenn sie den Eindruck gewinnen, dass ihre Belastung ständig größer wird, weil die Finanzierungserfordernisse des Sozialstaates weiter steigen und immer weniger immer mehr schultern sollen, werden sie Korrekturen fordern. Wenn darüber hinaus ihre eigene Lebensperspektive sich auch noch verschlechtern sollte - also ihre Leistungen nicht durch eine persönliche Rendite belohnt werden -, dann steigert sich ihre Unzufriedenheit bis hin zu einer Abwehrhaltung, die in der Aufkündigung der Solidargemeinschaft enden kann. Dafür suchen sie sich politische Anwälte, und die bieten sich parlamentarisch wie außerparlamentarisch freudestrahlend an.
    Auf der anderen Seite werden diejenigen, die Leistungen vom Sozialstaat empfangen, ebenfalls immer unzufriedener. Sie registrieren, dass langjährige Beitragszahlungen in die Arbeitslosenversicherung bedeutungslos werden. Sie fühlen sich abgehängt und ohne zweite Chance. Sie empfinden die Sozialleistung als nicht auskömmlich im Sinne einer Existenzsicherung. Alleinerziehende Frauen mit Kindern sehen sich an der Armutsgrenze oder darüber hinaus. Blutleere und kalte Statistik über die materiellen Perspektiven von Rentnern fängt subjektive Bedrohungsängste vor Altersarmut nicht ein. Gleichzeitig registrieren Empfänger von Sozialstaatsleistungen, dass ihnen andere Teile der Gesellschaft in der Einkommens- und Vermögensentwicklung um Lichtjahre enteilen. Sie reklamieren eine bessere Ausstattung des Sozialstaates und suchen sich dafür ebenfalls politische Anwälte, die sich ihnen genauso aufdrängen wie den Beitragszahlern die Propagandisten der Schlankheitskur.
    Der
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