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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich
Autoren: Peer Steinbrück
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Sozialpakt, der unsere Gesellschaft zusammenhält, gerät in einen Schraubstock, an dem von zwei Seiten gleichzeitig gedreht wird - von oben in der Zielsetzung, ihm eine Diät zu verordnen, und von unten in der Zielsetzung, ihn besser auszustatten. In Kapitel IV werde ich auf diese Zusammenhänge näher eingehen.
    Aus einer Reihe von Gesprächen mit jüngeren Menschen nehme ich mit, dass sich viele von der Politik nicht repräsentiert fühlen. Zu dieser Gruppe gehören überwiegend Singles mit abgeschlossener Ausbildung, in den Anfangsjahren ihres Berufs stehend, nicht üppig bezahlt, mit Bruttoeinkommen von 3000 bis 4000 Euro (das heißt netto zwischen 1700 und 2400 Euro, Miete ist noch abzuziehen), weder juvenil-rotzig noch egomanisch, weder unsozial noch apolitisch, aber mit einem gewissen Ehrgeiz ausgestattet, zu zeigen, was sie können. Viele dieser jungen Leute haben den Eindruck, dass ihr Leistungswille nicht anerkannt wird. Stattdessen würden ihre keineswegs üppigen Verdienste einer politisch austarierten Verteilungsmentalität unterworfen, die sich konkret in immer weiteren Abzügen auf ihre Gehälter auswirke.
    Solche Äußerungen jüngerer Menschen, die wahrscheinlich auch in den nächstälteren Jahrgängen Widerhall finden, stimmen mich nachdenklich. Und sie unterstreichen eine weithin unterschätzte Gefahr. Wenn im Zuge des demographischen Drucks, knapper öffentlicher Haushalte mit hoher Verschuldung, automatisch eintretender Kostensteigerungen etwa im Gesundheitswesen und der Erfüllung weiterer - gelegentlich sogar nachvollziehbarer - Ansprüche die einzige Antwort der Politik lautet, weiter an den Justierschrauben des Sozialstaates zu drehen und zugleich tiefer in die Portemonnaies der Bürger zu greifen, dann werden diese sich der Last zu entziehen versuchen und virtuelle Kündigungsschreiben versenden. Sie werden politischen Kräften Auftrieb geben, die den Sozialstaat nicht als Kulturleistung, sondern als Ballast verstehen. Sie könnten geneigter sein, Steuern zu hinterziehen, Schwarzarbeit in Anspruch zu nehmen, Wohnsitze und Standorte zu verlagern, die Gewährung und Annahme von Vorteilen als normal zu akzeptieren, sich korrumpieren zu lassen. Das sind einige der Ausweichreaktionen, von denen wir heute noch annehmen, dass es sich um Ausnahmen handelt. Gruppeninteressen würden mit noch härteren Bandagen verteidigt, vom Allgemeinwohl wäre nur noch am Sonntag die Rede. All dies würde die nicht geschriebene Verfassung unseres Landes verändern.
    Die bisherigen Reformen der Sozialversicherungssysteme haben gewisse, manchmal unterschätzte Fortschritte gebracht. Die Ergebnisse haben nicht immer den Intentionen entsprochen. Sie sind häufig von der jeweiligen Entwicklung überholt worden und diverse Male im Dickicht widerstreitender Interessen und propagandistischer Diskreditierung stecken geblieben. Die Erwartung, dass Reformen ein großer Wurf sein müssen, der alle Probleme umfassend und definitiv löst, ist naiv. Solche Reformen gibt es nicht, Reformen sind ein andauernder Prozess. Nachbesserungen folgen neuen Erkenntnissen. Und ein Dummkopf ist, wer solche Nachbesserungen in Verruf bringt. Aber der Weg, der beharrlich und Schritt für Schritt zu gehen ist, muss in die Richtung eines Sozialversicherungssystems weisen, das gegenüber konjunkturellen Ausschlägen und Veränderungen des Arbeitsmarktes robuster ist und nachhaltiger im Sinne der Generationengerechtigkeit. Bloßes Drehen an den Beitragssätzen und Lösungen, die den Weg des geringsten Widerstands über finanzielle Bypässe wählen, werden das Sozialversicherungssystem eines Tages implodieren lassen.

    In meiner Kandidatenrede für die Nominierung zum Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen auf dem SPD-Landesparteitag in Essen am 2. November 2002 habe ich das erste Mal von Fliehkräften in unserer Gesellschaft gesprochen. Diese Fliehkräfte werden in den oberen Etagen unterschätzt und allenfalls in Stadtvierteln mit besonderen sozialen Problemen vermutet, in die man ohnehin nicht geht und deren Schmuddelkinder von den eigenen Schulen fernzuhalten sind. Zur Entstehung und Konsolidierung dieser Fliehkräfte tragen maßgeblich bei:
* eine wachsende Kluft in der Vermögens- und Einkommensverteilung,
    * unterschiedliche Startchancen von Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Schichten,
    * die bereits beschriebene Spannung zwischen den Gegenwartsinteressen der Älteren und den Zukunftsinteressen der Jüngeren,
    * die mangelnde
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