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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich
Autoren: Peer Steinbrück
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aufgestellt, wie wir uns das einbilden. Dazu sind die Defizite in unserem Bildungssystem zu groß. Es droht erheblicher Fachkräftemangel bei gleichzeitig viel zu hoher Sockelarbeitslosigkeit. Unsere Innovationskraft erhält im internationalen Versetzungszeugnis lediglich durchschnittliche Noten. Die Staatsverschuldung zieht die Schlinge um unseren Hals enger und geht zu Lasten notwendiger Zukunftsinvestitionen. Der deutsche Bankensektor ist teilweise unterkapitalisiert, nicht frei von Risiken bei Buchkrediten infolge der Wirtschaftskrise und setzt auf das Prinzip Hoffnung bei einigen Landesbanken. Von den Rissen im Fundament des Sozialstaates wird gleich noch zu reden sein.
    Der Appell, sich auf das Positive zu konzentrieren, lenkt hier nur ab. Denn es bleibt das Grundproblem: dass ausgerechnet in Zeiten eines beschleunigten und härteren globalen Wettbewerbs die finanziellen Grundlagen des Sozialstaates unter erheblichen Druck geraten.
Risse im Fundament des Sozialstaates
    Die tiefgreifenden Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Sozialstaat, die Staatsfinanzen und den Solidarpakt unserer Gesellschaft werden in der politischen und öffentlichen Diskussion allenfalls an der Oberfläche reflektiert - Ausnahmen bestätigen die Regel. Wer traut sich schon, laut die Frage zu stellen, wie es eigentlich um die Innovationsfähigkeit oder, in plattem ökonomischem Sinne, um die Produktivität einer deutlich älter werdenden Gesellschaft bestellt ist. Dem Sozialstaat, der sich überwiegend aus den Abgaben von sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen - und zunehmend aus den Steuern aller Bürger - finanziert, geht die Puste aus, wenn das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern der Schwindsucht anheimfallt. Genau das ist der Fall.
    Während das Verhältnis der über 65-Jährigen zu den 20- bis 64-Jährigen - und damit ähnlich das Verhältnis von Empfängern zu Einzahlern der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme - im Jahr 1960 noch eins zu fünf betrug, verschlechterte es sich 2008 bereits auf eins zu drei und wird 2030 voraussichtlich bei eins zu zwei liegen. Da können Parteitage, Gewerkschaftskongresse, Sozialverbände noch so viel räsonieren, die guten alten Zeiten beschwören, Appelle der Solidarität aussenden und Garantien der Regierung einfordern: Am Ende haben wir es mit einer unbestechlichen, politischem Zugriff entzogenen Mathematik zu tun.
    Soweit und solange die Finanzierung des deutschen Sozialstaates überwiegend von der Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen (und den Beiträgen ihrer Arbeitgeber) abhängig ist, werden wir bei einer stagnierenden oder sogar abnehmenden Erwerbstätigenzahl in Kombination mit einer Zunahme von Leistungsempfängern gegen die Wand fahren. Oder wir müssen die Sozialversicherungsabgaben und damit die Bruttoarbeitskosten jedes Jahr aufs Neue in die Höhe schrauben. Eine andere Variante liegt darin, die Zuschüsse aus den öffentlichen Haushalten - also den steuerfinanzierten Anteil - weiter zu erhöhen. Aber dies hat Auswirkungen auf die Spielräume des öffentlichen Budgets und seine Schuldenaufnahme.
    Das gilt erst recht, wenn zwei weitere Treibsätze zünden. Zum einen ein weiterer Rückzug der Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung der Sozialsysteme mit einer entsprechenden Erhöhung des Kesseldrucks für die Arbeitnehmerseite. Das ist die Zauberformel des sich wirtschaftsfreundlich nennenden Teils von zwei Parteien, die zurzeit Regierungsverantwortung tragen. Auf der anderen Seite sucht man sein Heil in einer knackigen Erhöhung des Sozialleistungsniveaus nach der Devise »viel hilft viel«. Das ist die Zauberformel eines sich verteilungsfreundlich nennenden Teils von (mindestens) zwei anderen Parteien. Zum anderen haben wir es mit einem Automatismus zu tun, der allein vom medizinischen Fortschritt ausgeht - bei einer steigenden Lebenserwartung - und die Gesundheitskosten mit einem Druck auf die Krankenversicherungsbeiträge erhöhen wird. Experten bieten dazu Frontalunterricht an.
    Man kann es schütteln, wie mal will: Wir stecken in einem Dilemma, das eines der wichtigsten Kulturgüter sprengen und das wirksamste Bindemittel für eine friedfertige Gesellschaft auflösen kann - den Sozialstaat. Selbst wenn wir im demographischen Wandel das jetzige Niveau der Beschäftigung halten, wirken drei Entwicklungen wie Presslufthämmer auf die Finanzierungsgrundlagen des überwiegend umlagefinanzierten Sozialstaates:
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