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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad
Autoren: Hermann Hesse
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wirst sehen.«
    Hans spürte ein kleines Glas in seiner Hand. Er verschüttete viel davon, den Rest schluckte er und fühlte ihn wie Feuer im Schlunde brennen. Ein heftiger Ekel schüttelte ihn. Allein taumelte er die Vortreppe hinab und kam, er wußte nicht wie, zum Dorf hinaus. Häuser, Zäune und Gärten drehten sich schief und wirr an ihm vorüber.
    Unter einem Apfelbaum legte er sich in die feuchte Wiese. Eine Menge von widerlichen Gefühlen, quälenden Befürchtungen und halbfertigen Gedanken hinderte ihn am Einschlafen. Er kam sich beschmutzt und geschändet vor. Wie sollte er nach Haus kommen? Was sollte er dem Vater
    sagen? Und was sollte morgen aus ihm werden? Er kam sich so gebrochen und elend vor, als müsse er nun eine Ewigkeit ruhen, schlafen, sich schämen. Kopf und Augen taten ihm weh, und er fühlte nicht einmal so viel Kraft in sich, um aufzustehen und weiterzugehen. Plötzlich kam wie eine verspätete, flüchtige Welle ein Anflug der vorigen Lustigkeit zurück; er schnitt eine Grimasse und sang vor sich hin:
    O du lieber Augustin,
    Augustin, Augustin,
    O du lieber Augustin,
    Alles ist hin.
    Und kaum hatte er ausgesungen, so tat ihm etwas im Innersten weh und stürmte eine trübe Flut von unklaren Vorstellungen und Erinnerungen, von Scham und Selbstvorwürfen auf ihn ein.
    Er stöhnte laut und sank schluchzend ins Gras. Nach einer Stunde, es dunkelte schon, erhob er sich und schritt unsicher und mühsam bergabwärts.
    Herr Giebenrath hatte ausgiebig geschimpft, als sein Bub zum Nachtessen ausgeblieben war. Als es neun Uhr wurde und Hans noch immer nicht da war, legte er ein lang nicht mehr gebrauchtes, starkes Meerrohr bereit. Der Kerl meinte wohl, er sei der väterlichen Rute bereits entwachsen?
    Der konnte sich gratulieren, wenn er heimkam!
    Um zehn Uhr verschloß er die Haustüre. Wenn der Herr Sohn nachtschwärmen wollte, konnte er ja sehen, wo er bliebe. Trotzdem schlief er nicht, sondern wartete mit wachsendem Grimm von Stunde zu Stunde darauf, daß eine Hand die Klinke probiere und schüchtern an der Glocke ziehe. Er stellte sich die Szene vor - der Herumtreiber konnte ja was erleben! Wahrscheinlich würde der Lausbub besoffen sein, aber er würde dann schon nüchtern werden, der Bengel, der Heimtücker, der elendige! Und wenn er ihm alle Knochen gegeneinander hauen mußte.
    Endlich bezwang ihn und seine Wut der Schlaf. Zu derselben Zeit trieb der so bedrohte Hans schon kühl und still und langsam im dunklen Flusse talabwärts. Ekel, Scham und Leid waren von ihm genommen, auf seinen dunkel dahintreibenden, schmächtigen Körper schaute die kalte, bläuliche Herbstnacht herab, mit seinen Händen und Haaren und erblaßten Lippen spielte das schwarze Wasser. Niemand sah ihn, wenn nicht etwa der vor Tagesanbruch auf Jagd ziehende scheue Fischotter, der ihn listig beäugte und lautlos an ihm vorüberglitt. Niemand wußte auch, wie er ins Wasser geraten sei. Er war vielleicht verirrt und an einer abschüssigen Stelle ausgeglitten; er hatte vielleicht trinken wollen und das Gleichgewicht verloren. Vielleicht hatte der Anblick des schönen Wassers ihn gelockt, daß er sich darüberbeugte, und da ihm Nacht und Mondblässe so voll Frieden und tiefer Rast entgegenblickten, trieb ihn Müdigkeit und Angst mit stillem Zwang in die Schatten des Todes.
    Am Tage fand man ihn und trug ihn heim. Der erschrockene Vater mußte seinen Stock beiseite tun und seinen angesammelten Grimm fahrenlassen. Zwar weinte er nicht und ließ sich wenig merken, aber in der folgenden Nacht blieb er wieder wach und blickte zuweilen durch den Türspalt zu seinem stillgewordenen Kinde hinüber, das auf einem reinen Bette lag und noch immer mit der feinen Stirn und dem bleichen, klugen Gesicht so aussah, als wäre es etwas Besonderes und habe das eingeborne Recht, ein anderes Schicksal als andere zu haben. An Stirn und Händen war die Haut ein wenig bläulichrot abgeschürft, die hübschen Züge
    schlummerten, über den Augen lagen die weißen Lider, und der nicht ganz geschlossene Mund sah zufrieden und beinahe heiter aus. Es hatte das Ansehen, der Junge sei plötzlich in der Blüte gebrochen und aus einer freudigen Bahn gerissen, und auch der Vater erlag in seiner Müdigkeit und einsamen Trauer dieser lächelnden Täuschung.
    Die Beerdigung zog eine große Zahl von Mitgängern und Neugierigen an. Wieder war Hans
    Giebenrath eine Berühmtheit geworden, für die sich jeder interessierte, und wieder nahmen die Lehrer, der Rektor und
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