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Unterm Kirschbaum

Unterm Kirschbaum

Titel: Unterm Kirschbaum
Autoren: Horst Bosetzky
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stehen hatten, und dass er diejenigen, die auch noch mit einem Türken verheiratet waren, am liebsten sofort nach Anatolien ausgewiesen hätte. Überhaupt, diese ganze Sozialarbeiterscheiße.
    »Kann ich Frau Minder-Cerkez mal sprechen?«
    »Sie ist gerade in einer Sitzung.«
    Mannhardt war alt genug, um sich in solchen Fällen nicht mehr aufzuregen. Als sie an der Zelle vorbeikamen, die als Beratungszimmer diente, prägte er sich den Namen ein: Margrit Minder-Cerkez, Diplompsychologin.
    Im selben Augenblick stand Klütz hinter ihm und übergab ihm seine zusammengerollten Bögen wie einen Staffelstab. Der Vollzugsbeamte merkte nichts oder wollte nichts merken.

     

II. Teil

     
    (1998)

     

     

2.
    Der kaum vom Winde bewegte Rauch stieg sonnenbeschienen auf und gab ein Bild von Glück und Frieden. Und das alles war sein! Aber wie lange noch? Er sann ängstlich nach …
    (Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)

     

     
    Rainer Wiederschein ging über die Frohnauer Brücke und genoss es, von vielen erkannt und mit Respekt begrüßt zu werden. Hier war er wer. Von daher war es richtig gewesen, die alte Villa am Graben der S-Bahn zu kaufen und den Umbau zu wagen. Gute Restaurants gab es viele im Berliner Norden, aber keines, das so war wie sein ›à la world-carte‹. Der Grundgedanke war frappierend einfach: Biete den Leuten unter einem Dach all das, was sie auf ihren Reisen rund um die Welt genossen haben. Seine Speisekarte war nach Art einer Weltkarte gestaltet und man konnte das bestellen, was für ausgewählte Metropolen, Küsten und Landschaften typisch war. Sein Lebenslauf war so exotisch, dass man ihm ohne Weiteres abnahm, dabei authentisch zu sein. In jeder Tageszeitung hatte es Porträts von ihm gegeben.
    Wiederschein war am 14. April 1963 im Berliner Bezirk Schöneberg auf die Welt gekommen und hatte die ganze Jugend und Kindheit darunter gelitten, dass alles um ihn herum so furchtbar langweilig war: die Wartburgstraße, seine Eltern, seine Verwandten, seine Mitschüler. Alle waren zwar nett, aber eben furchtbar nett, das heißt, ungemein bürgerlich und bieder, spießig und langweilig. So hatte er sich zu seinem 16. Geburtstag an die Tür seines Zimmers ein selbst gemaltes Plakat angeheftet: ›Langeweile kann tödlich sein‹. Seine Eltern, ehrbare Beamte in der Bezirksverwaltung, hatten das als Affront empfunden und sich fürchterlich darüber aufgeregt, weil sie meinten, er würde damit ihr Leben entwerten. Der Streit mit ihnen war im darauffolgenden halben Jahr derart eskaliert, dass er beschlossen hatte, das Gymnasium zu verlassen und auf das Abitur zu pfeifen. Stattdessen hatte er eine Lehre als Koch begonnen, aber auch die nicht zu Ende gebracht, denn jeden Tag von frühmorgens bis spätabends Gemüse zu putzen und am Herd zu stehen, war auch alles andere als spannend. Die Insel West-Berlin hatte ihn angewidert, und so hatte er seinen Rucksack gepackt, um rund um den Erdball zu trampen und das große Abenteuer zu suchen, sprich: das berühmte Glück am anderen Ufer, obwohl er sich sehr wohl darüber im Klaren war, dass es allein der Weg war, der zählte, nicht das Ziel. Mit dem Erreichen des Zieles begann immer schon das Unglück, das heißt, die Langeweile.
    Das Aufzählen all seiner Stationen langweilte ihn, und er nannte, fragte man ihn, nur Indien, Nepal, die Fidschi-Inseln, Brasilien und Kentucky. Mal hatte er als Koch, mal als Kellner sein Geld verdient, manchmal auch Touristen geführt oder ganz einfach Geld geschnorrt, hin und wieder auch einer reichen Lady als jugendlicher Lover gedient. Damen dieser Art gingen nicht zur Polizei, wenn ihnen nach einer Nacht mit ihm ein paar 100 Dollar fehlten.
    Er galt als liebenswerter Filou, wusste aber auch, dass ihn ein Schulfreund, der Psychologie studiert hatte, als einen Soziopathen bezeichnete, also als einen Menschen, der über einen oberflächlichen Charme und eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügte, selbstzentriert und launisch war, weder Reue noch Schamgefühl aufzubringen vermochte und es nicht schaffte, tiefere Bindungen einzugehen und seinem Leben auf Dauer irgendeine Ordnung zu geben.
    Wie auch immer, Wiederschein war 1994, im Alter von 31 Jahren also, nach Berlin zurückgekehrt, um an der Beerdigung seiner Eltern teilzunehmen. Sie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Beim Leichenschmaus war er Angela Grabowski begegnet, einer jüngeren Bekannten seiner Mutter, von allen Äinschie genannt.
    Äinschie war geschieden
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