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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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Mal zu offensichtlich, als dass sie hätten instinktiver Natur sein können, und er ließ nicht eine Möglichkeit aus, ihm gegenüber heimtückische Bemerkungen laut werden zu lassen wegen seiner Tischmanieren, seiner Neigung zur Schmuddeligkeit oder Dummheit, und Jacques senkte schmerzerfüllt die Augen und Claudie hielt sich zigmal am Tag davor zurück, diesen alten Mann zu beleidigen, für den sie nicht mehr das Mindeste fühlte. Als Matthieu begann, mit Libero zu verkehren, zeigte Marcel sich widerwärtig, er murmelte zwischen den Zähnen: »Wundert mich nicht, dass der sich in einen Sarden vernarrt«, und Claudie hatte nichts gesagt, »wenn er uns den wenigstens nicht ins Haus schleppen würde«, und sie hatte nichts gesagt, über Jahre hinweg hatte sie nichts gesagt. Einige Wochen zuvor jedoch, Matthieu hatte wie jedes Jahr eine Geburtstagskarte an seinen Großvater geschickt, Herzlichen Glückwunsch, ich liebe Dich, Dein Enkelsohn Matthieu, eine kleine, naive und dem Ritual geschuldete Karte, auf die Marcel mit zwei Sätzen geantwortet hatte: Mein Junge, bald dreizehnjährig könntest Du mir langsam die Lektüre von Nichtigkeiten ersparen, die meinem Alter nicht entsprechen und dem Deinen nicht mehr angemessen sind. Schreibe, wenn Du was zu sagen hast, und wenn nicht, enthalte Dich der Stimme.
    Claudie hatte den Brief abgefangen und ihren Telefonhörer vor Wut zitternd abgenommen, »Du bist ein altes Arschloch, Onkel, und du wirst wahrscheinlich auch als altes Arschloch krepieren, aber bis dahin unterstehe dich, auch nur noch einmal dein Wort so an meinen Sohn zu richten«, und Marcel hatte leicht vor sich hin geflennt, bevor Claudie schlagartig den Hörer aufknallte und dabei die grausame Ungerechtigkeit des Schicksals verfluchte, das es für richtig befunden hatte, ihr die Eltern zu nehmen und zugleich behutsam darauf zu achten, diesen unerträglichen Knacker am Leben zu lassen, der sich unaufhörlich darüber beschwerte, im Sterben zu liegen, und in tiefster Nacht zum Telefon griff beim nur leisesten Katarrh, beim geringsten Anzeichen einer Schwäche, mit ausufernden Schilderungen über die heimtückischen Entwicklungen des Geschwürs, das ihn seit siebzig Jahren schon hätte töten sollen, obwohl er in Wirklichkeit von eiserner Gesundheit war, als hielte er sich nur aufrecht, um das Leben seines erwachsenen Sohnes zu ruinieren, nachdem er ihn schon während seiner Kindheit vollkommen ignoriert hatte, und Claudie liebäugelte mit der reizvollen Vorstellung, einen Flieger zu nehmen, ihn im Dorf mit einem Kissen zu ersticken oder besser noch mit eigenen Händen zu erwürgen, aber sie musste von ihren rachsüchtigen Phantasien absehen und feststellen, dass sie in Wirklichkeit ihren Sohn diesem Mann die Ferien über unmöglich anvertrauen, sie diesem aber ebenso unmöglich verkünden konnte, dass er in Paris zu bleiben habe, weil sein Großvater väterlicherseits ihn verachtete. Ein Telefonanruf war es von Gavina Pintus, der die Lösung des Problems brachte: Sie verkündete in einer Mischung aus Korsisch und dem Sardisch der Barbagia, dass sie Matthieu, wann immer er es wünschte, gern willkommen hieße. Claudie hatte ausgesprochen Lust, abzulehnen, und sei es auch nur, um Matthieu, insofern sie ihm unterstellte,
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Libero der Grund für dieses willkommene Angebot zu sein, eine Lektion darin zu erteilen, dass emotionale Erpressungen sich nicht rechnen, aber sie willigte ein, sobald ihr klar geworden war, dass jetzt sie diejenige war, die sich in der Lage befand, ihren Sohn erpressen zu können, was sie sich auch nicht zu tun versagte und also drohend die Ankündigung in der Luft schweben ließ, die Ferien bei jedem noch so geringen schulischen Versagen oder dem Versuch einer Weigerung ausfallen zu lassen, und vergnügt stellte sie über die Jahre hinweg fest, dass sich in Wahrheit, wie es ihr das Schauspiel eines höflichen, fleißigen und folgsamen Sohnes täglich bewies, nichts so sehr rechnet wie Erpressung.
    Es gab zwei Welten, vielleicht unendlich viele mehr, aber für ihn nur zwei. Zwei vollkommen voneinander getrennte Welten, hierarchisch geordnet, ohne gemeinsame Grenze, und er wollte sich diejenige, die ihm die fremdeste war, zu eigen machen, als hätte er entdeckt, dass der wesentliche Teil seiner selbst der ihm fremdeste war und dass er diesen nun zu entdecken und zurückzuholen habe, denn er war ihm entrissen worden, schon weit vor seiner Geburt, und man hatte ihn dazu verflucht, das Leben eines
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