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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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umgemünzt werden, obgleich ausgerechnet die Monotonie der Gewohnheit unvereinbar war mit dem Wohlbehagen, das Matthieu verspürte, als er sich mit über Holzfeuer gegrillten Schweineeiern vollstopfte, während ein scharfer Wind die Wolken Richtung Berge trug, oberhalb einer kleinen, der Heiligen Jungfrau gewidmeten Kapelle, einer ganz weißen Kapelle, zu deren Füßen manchmal von Sauveur und Virgile zu Ehren der Gefährtin ihrer Einsamkeit entzündete Kerzen brannten, und die Hände, die diese Kapelle errichtet hatten, waren seit Langem bereits vom Wind verstreut, aber sie hatten hier die Spuren ihrer Existenz hinterlassen, und weiter oben noch, entlang eines scharfen Abhangs, erkannte man die Überreste zusammengesackter Mauern, kaum wahrnehmbar, denn sie waren von der gleichen roten Farbe wie der Granitfelsen, aus dem sie sich erhoben hatten, bevor der Berg sie doch wieder zu sich nahm, indem er sie unmerklich in sein von Stein und Disteln bedecktes Inneres sog, als demonstrierte er so nicht etwa seine Macht, sondern seine Zärtlichkeit. Sauveur erhitzte auf dem Feuer einen Topf schlechten Kaffees, er sprach mit Virgile und dessen Bruder in einer Sprache, die Matthieu nicht verstand, von der er aber wusste, dass es die seine war, und er hörte ihnen zu, während er den brühend heißen Kaffee trank und träumte, dass er sie verstünde, obgleich ihre Worte für ihn keinen anderen Sinn ergaben als den des grollenden Flusses, dessen unsichtbare Fluten man fließen hörte, ganz tief hinten im eingeengten Abgrund, der das Gebirge zerriss wie eine tiefe Wunde, ein vom Finger Gottes ganz zu Beginn der Welt gezogener Graben. Nach der Mahlzeit folgten sie Virgile in einen Raum, in dem Käse reiften, und er öffnete einen alten Überseekoffer von riesigem Ausmaß, vollgestopft mit einem grauenhaften Sammelsurium an Trödelkram, alte, rostige Steigbügel, Kandaren, Militärschuhe in allen Größen aus so steifem Leder, dass sie wie aus Bronze geschliffen wirkten, und er zog aus ihm ein in Lappen gewickeltes Kriegsgewehr sowie unterschiedliche Stücke Alteisen, von denen Matthieu mit Bestürzung erfuhr, dass es Maschinenpistolen der Marke Sten waren, die in so ungeheuer großer Zahl während des Kriegs abgeworfen worden waren, dass man sie noch immer in der Macchia fand, wo sie seit sechzig Jahren darauf warteten, wieder aufgesammelt zu werden, und Virgile sagte lachend, dass sein Vater ein großer Widerstandskämpfer gewesen war, der Schrecken der Italiener, als Ribeddu 1 und seine Männer ebendiesen Boden zertrampelten und geräuschlos in die Nacht vordrangen, dem Lärm der Flugzeugmotoren auflauernd, und Virgile tappte Matthieu auf die Schulter, der mit offenem Mund lauschte und sich vorstellte, dass auch er ein furchterregender Held gewesen wäre.
    »Los, kommt, wir schießen eine Runde.«
    Virgile prüfte das Gewehr, nahm Patronen, und dann setzten sie sich auf einen großen Felsen, der die Bergschlucht überragte, und schossen einer nach dem anderen auf den gegenüberliegenden Abhang des Berges, der Widerhall der Schüsse verlor sich im Wald von Vaddi Mali, und zwischen Meer und Tal zogen jetzt dicke Nebelschwaden auf, Matthieu fröstelte es, der Rückschlag des Gewehres zerhaute ihm die Schulter und sein Glück war perfekt.
    1 Spitzname von Dominique Lucchini, Chef des kommunistischen Widerstands in der Alta Rocca.

Hayets Weggang markierte gegen alle Erwartung den Anfang einer Serie von Katastrophen, die über die Dorfbar hereinbrach wie der göttliche Fluch über Ägypten. Und doch kündigte sich alles wie zum Besten an: Kaum hatte Marie-Angèle Susini ihr Angebot einer Verpachtung öffentlich gemacht, zeigte sich auch schon ein Interessent. Es war ein Mann in seinen Dreißigern, der ursprünglich aus einer kleinen Stadt am Küstenstreifen kam, wo er lange Zeit über als Kellner und Barkeeper in Lokalen gearbeitet hatte, die er nicht zögerte, als renommiert einzustufen. Er schäumte förmlich vor Enthusiasmus, das wirtschaftliche Potenzial der Bar sei zweifelsohne außerordentlich und würde bald auch schon zutage treten, wenn nur ein geschickter Manager seinen Nutzen daraus zu ziehen verstünde, was, dies sei gesagt, ohne Marie-Angèle beleidigen zu wollen, bislang nicht der Fall gewesen sei, niemand sei, wohlgemerkt, dazu angehalten, ehrgeizig zu sein, er aber, er sei es, und sogar sehr, er gebe sich nicht damit zufrieden, geruhsam den Laden zu schmeißen, die ortsansässigen Gäste genügten ihm nicht, mit
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