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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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Fremden zu leben, ohne dass er sich dessen hätte bewusst werden können, ein Leben, in dem alles, was ihm vertraut erschienen war, verachtenswert geworden ist, eines, das nicht einmal ein Leben genannt werden konnte, sondern eine mechanische Parodie auf das Leben, welche er vergessen wollte, indem er sich zum Beispiel den kalten, von den Bergen kommenden Wind ins Gesicht fegen ließ, während er zusammen mit Libero auf dem Heck eines von Sauveur Pintus holprig über kaputte Fahrbahnen gelenkten Allrads hockte, auf dem Weg hoch zu dessen Schäferei. Matthieu war sechzehn Jahre alt und verbrachte inzwischen seine gesamten Winterferien im Dorf, und er gedieh in der unentwirrbaren Geschwisterschaft der Pintus mit der Gewandtheit eines routinierten Ethnologen. Liberos ältester Bruder hatte ihnen vorgeschlagen, den Tag gemeinsam zu verbringen, und als sie die Schäferei erreichten, trafen sie auf Virgile Ordioni, der damit beschäftigt war, die jungen, in einem Gehege versammelten Eber zu kastrieren. Er lockte sie mit Nahrung an und stieß dabei unterschiedlich modulierte Grunzgeräusche aus, die im Ohr eines Schweins angenehm klingen sollten, und wenn eines von ihnen, behext vom Charme dieser Musik oder aber, nüchterner gesprochen, geblendet von Gefräßigkeit, sich ihm unvorsichtigerweise näherte, sprang Virgile auf es drauf, schmiss es wie einen Kartoffelsack zur Erde, drehte es, indem er es an den Hinterläufen packte, bevor er sich dann rittlings auf seinen Bauch setzte und das in die Irre geführte Vieh in den Schraubstock seiner mächtigen Schenkel spannte, das nun schaurige Schreie ausstieß, vorahnend wahrscheinlich, dass man ihm nichts Gutes wollte, und Virgile, das Messer zur Hand, schnitt mit sicherer Geste das Skrotum auf und tauchte die Finger in die Öffnung, um einen ersten Hoden herauszuziehen, dessen Samenleiter er durchtrennte, bevor er den zweiten das nämliche Schicksal erleiden ließ und sie gemeinsam in eine große, zur Hälfte gefüllte Schüssel warf. Sobald die Operation beendet war, machte sich das befreite Schwein mit einem Stoizismus, der Matthieu beeindruckte, wieder ans Fressen, als wäre nichts geschehen, mitten unter seinen gleichgültigen Artgenossen, die einer nach dem anderen unter Virgiles Expertenhände kamen. Matthieu und Libero betrachteten das Schauspiel auf einen Zaun gelehnt. Sauveur trat aus der Schäferei und gesellte sich zu ihnen.
    »So was hast du noch nicht gesehen, was, Matthieu?«
    Matthieu schüttelte den Kopf und Sauveur lachte kurz auf.
    »Virgile ist echt gut. Das hat er drauf. Da kann man nichts gegen sagen.«
    Aber Matthieu dachte gar nicht daran, irgendetwas sagen zu wollen, vor allem da das Gehege nun zur Bühne einer interessanten Schicksalswende wurde. Virgile, auf einem Schwein hockend, dem er soeben das Skrotum aufgeschlitzt hatte, schrie einen Fluch aus und wandte sich an Sauveur, der ihn fragte, was los sei.
    »Da ist nur einer! Ein einziger! Der andere ist nicht nach unten gewandert!«
    Sauveur zuckte mit den Schultern.
    »So was kommt vor!«
    Aber Virgile wollte sich mitnichten geschlagen geben, er schnitt den einzigen Hoden ab und nahm die Erkundung des leeren Skrotums wieder auf, er schrie: »Ich fühle ihn! Ich fühle ihn!«, und unter Flüchen, denn das Schwein, das teuer bezahlte für seine verspätete Pubertät, machte verzweifelte Anstrengungen, um der Umklammerung seines Folterknechts zu entkommen, es drehte und wendete sich in alle Richtungen, Staub flog auf, und es stieß jetzt so klar Schreie aus, die beinahe menschlich klangen, dass Virgile schließlich einlenkte. Das Schwein erhob sich und flüchtete in eine Ecke des Geheges, es wirkte runzelig, seine Beine zitterten, seine langen, dunkel melierten Ohren hingen ihm über die Augen. »Wird es sterben?«, fragte Matthieu.
    Virgile kam auf sie zu, die Schüssel im Arm, er wischte sich den Schweiß von der Stirn und lachte, während er sagte: »Aber nein, es stirbt nicht, es ist angeschlagen, aber Schweine, die sind robust, die sterben nicht so schnell«, und er lachte noch immer und fragte: »Nun, Jungs, alles gut?, wollen wir essen?«, und Matthieu wurde klar, dass die Schüssel ihre Mahlzeit enthielt, und er bemühte sich, nichts von seiner Überraschung sichtbar werden zu lassen, denn diese Welt war die seine, selbst wenn er sie offensichtlich noch nicht vollständig kannte, und jede Überraschung, so abstoßend sie auch sein mochte, musste umgehend geleugnet und in eine Gewohnheit
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