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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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auftauchten. Vincent seufzte.
    »Du zahlst nächste Woche, was du schuldig bist, oder ich schlage dir die Zähne ein.«
    Der Pächter zeigte eine fatalistische Reaktion, die nicht frei war von einer gewissen Noblesse.
    »Ich habe keinen Heller. Nichts. Ich glaube, du wirst mir die Zähne einschlagen müssen.«
    Marie-Angèle hielt Vincent zurück und versuchte, eine Einigung zu erzielen, was sich als unmöglich erwies, denn es fehlte nicht nur jeder Cent für die Pacht, nein, auch die Lieferanten waren unbezahlt geblieben und die Arbeiten auf Kredit ausgeführt worden. Vincent ballte die Fäuste, während Marie-Angèle ihn nach draußen zog und wiederholt äußerte, lass gut sein, lass gut sein, er aber machte auf halbem Wege kehrt, brachte eine Karaffe in seine Gewalt und zerschlug sie auf dem Kopf des Pächters, der stöhnend zusammensackte. Vincent keuchte vor Wut.
    »Aus Prinzip, verdammte Scheiße, aus reinem Prinzip!«
    Marie-Angèle musste somit auf ihr Geld verzichten und Schulden begleichen, die sie nicht zu verantworten hatte. Sie schwor sich, ihre Entscheidungen umsichtiger zu fällen, was ihr nicht viel brachte. Die Pacht wurde danach auf ein reizendes junges Pärchen übertragen, dessen eheliche Zänkereien die Bar in ein Niemandsland verwandelten, aus dem Tag und Nacht der Krach zerschlagener Gläser, Schreie und Anschuldigungen von unfassbarer Grobheit drangen, auf die dann keuchende und, in Dezibel gemessen, ebenso freimütige Aussöhnungen folgten, aus denen klar hervorging, dass des Pärchens Ressourcen an Grobheiten in Rage wie in Ekstase unerschöpflich waren, sodass die Mütter der entrüsteten Familien es ihren unschuldigen Sprösslingen verboten, sich diesem Ort der Unzucht zu nähern, bis schließlich das junge Pärchen ersetzt wurde durch eine Dame von höchst respektablem Alter und Aussehen, die ihre Tage damit verbrachte, die Gäste anzuschnauzen und die Preise kapriziöse Wechsel schlagen zu lassen, als richtete sie ihre gesamte Energie darauf, ihr eigenes Geschäft den Bach runterlaufen zu lassen, was dann auch in Rekordzeit geschah, und Marie-Angèle sah verzweifelt den Sommer näher rücken, in der Überzeugung, die Dinge in die eigene Hand nehmen und die Schäden selbst wiedergutmachen zu müssen, bevor sie unumkehrbar werden würden. Im Juni jedoch, obschon sie sich eigentlich damit abgefunden hatte, die Arbeit wieder aufnehmen zu müssen, machte man ihr ein Angebot, das sie mit Freude annahm. Sie kamen vom Festland. Sie hatten dort in der Straßburger Vorortgegend über fünfzehn Jahre eine familiengeführte Bar betrieben und suchten nun nach milderen Gefilden. Bernard Gratas und seine Ehefrau hatten drei Kinder zwischen zwölf und achtzehn, einigermaßen hässlich, aber gut erzogen, und geschlagen mit einer bettlägerigen und senilen Großmutter, deren Altersschwäche Marie-Angèle das meiste Vertrauen einimpfte. Sie hatte Stabilität nötig und die Gratas waren der Inbegriff an Stabilität. Als sie ihnen erklärte, dass sie es vorziehe, im Voraus bezahlt zu werden, da sie bittere Unannehmlichkeiten hatte erleiden müssen, über die sie sich nicht weiter ausbreiten mochte, unterschrieb ihr Bernard Gratas auf der Stelle einen Scheck, der wundersamerweise gedeckt war, und Marie-Angèle vertraute ihnen die Schlüssel der Bar und Wohnung an und musste sich schon zurückhalten, sie nicht in ihre Arme zu schließen. Der Großmutter wurde in der Nähe des Kamins ein Platz geschaffen und die Gratas eröffneten die Bar zum rechten Augenblick wieder unter dem Namen Jägerstube, was, aus Mangel an Originalität, einem Traditionalismus feinster Sorte gleichkam, und die verprellten Stammgäste nahmen ihre alten Gewohnheiten wieder auf, Kaffee am Morgen, Kartenspiel zum Aperitif und bewegte Unterhaltungen in lauen Sommernächten. Marie-Angèle war beglückt, warf sich aber vor, nicht früher verstanden zu haben, worin ihr Fehler gelegen hatte. Sie hätte niemals, um keinen Preis, ihre Bar einem Landsmann anvertrauen dürfen, wenn sie auch nur eine Sekunde lang überlegt hätte, hätte sie sofort Pächter auf dem Festland gesucht, der Erfolg der Gratas führte es ihr deutlich vor Augen, einfache und arbeitsame Leute, deren klarer Sinn für Realitäten den offensichtlichen Mangel an Phantasie weitgehend kompensierte, und bitte, das genau war es, was sie von Anfang an gebraucht hatte, und sie würden sich bestimmt noch vollkommen einleben, davon war sie überzeugt, auch wenn die Dorfbewohner sie
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