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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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Handlungen, Wünschen, Zurückweisungen und kaum greifbarem Fleisch, ohne zu ahnen, dass Jahre später der Niedergang jener Welt, die durch sein Entscheiden bald schon entstehen sollte, ihn Judith wieder in die Arme spielen würde wie in ein verlorenes Heim und er sich noch vorwerfen sollte, sich so grausam in seinem Schicksal getäuscht zu haben. Im Augenblick aber war Judith sein Schicksal nicht und er wollte auch nicht, dass sie es würde, sie blieb schlichtweg eine Möglichkeit zu Träumereien, ungefährlich und zart, dank derer der unmerkliche Lauf der Zeiten, der ihn langsam erstickte und mit sich sog, manches Mal schneller und leichter wurde, und als zwei Jahre ins Land gegangen waren und die Frage aufkam, wo Libero sich für seinen Diplomstudiengang einschreiben würde, war Matthieu Judith dankbar, als hätte sie ihm erlaubt, der zähflüssigen Umarmung der Ewigkeit zu entkommen, die ihn gefangen gehalten hätte ohne sie. Matthieu hoffte, dass Libero sein Studium in Paris weiterführen würde, er hoffte es so inständig, dass er auch nicht eine Sekunde darüber nachdachte, es würde anders verlaufen können, denn es war geradezu unvermeidlich, dass zumindest doch von Zeit zu Zeit die Realität die Gestalt seiner Hoffnungen annehmen musste. Und so war er äußerst bestürzt zu erfahren, dass Libero bald schon einen Diplomstudiengang für Literatur in Corte antreten sollte, und zwar nicht freiwillig, sondern weil den Pintus die Mittel fehlten, ihn aufs Festland zu schicken. Es bestand für ihn kein Zweifel, dass eine boshafte und perverse Gottheit den Lauf der Welt bestimmte, um sein Leben in eine lange Abfolge von Leiden und unverdienten Enttäuschungen zu verwandeln, und gewiss hätte er dies lange Zeit auch geglaubt, wenn ihn nicht eine Initiative seiner Mutter an den Punkt gebracht hätte, diese beunruhigende Hypothese zu hinterfragen. Claudie hatte sich eben erst zu ihm gesetzt, als er mitten im Wohnzimmer, um niemandem das Theater seines Elends zu ersparen, Trübsal blies, und sie hatte ihn so amüsiert mitleidig angeblickt, dass er kurz davor war, sich verletzt zu fühlen. Aber es blieb ihm nicht die Zeit dazu. Sie lächelte ihn zunächst an.
    »Wir werden Libero vorschlagen, dass er herkommen soll, um sich hier einzurichten. In Aurélies Zimmer. Was meinst du?«
    Und als wäre er wieder acht, folgte er diesen Sommer seiner Mutter erneut zu den Pintus. Gavina Pintus saß noch immer auf ihrem Klappstuhl inmitten eines neuen Haufens Bauschutt. Sie lud drinnen auf einen Kaffee ein und man fand sich um den riesigen Tisch sitzend wieder, den Matthieu inzwischen so gut kannte. Libero hatte sich zu ihnen gesellt. Claudie redete, und Matthieu hörte seine Mutter in jener Sprache sprechen, die er nicht verstand, von der er aber wusste, dass es die seine war, sie ergriff die Hand von Gavina Pintus, die den Kopf zum Zeichen der Ablehnung schüttelte, und Claudie beugte sich zu ihr vor und redete weiter, ohne dass Matthieu etwas anderes hätte tun können, als sich vorzustellen, was sie da eben sagte, »Sie haben meinen Sohn aufgenommen, als wäre er der Ihre, nun sind wir an der Reihe, niemand hier bringt Ihnen Barmherzigkeit entgegen, wir sind an der Reihe«, und sie sprach mit unermüdlicher Überzeugungskraft, bis Matthieu verstand, da er Liberos Gesicht aufleuchten sah, dass sie erhalten hatte, was zu erbitten sie gekommen war.

Der Kreuzweg des Bernard Gratas nahm zunächst eine festliche Form an. Matthieu und Libero bereiteten grade in Paris ihre Abschlussarbeit vor, als er wöchentliche Pokerpartien im Hinterzimmer der Bar zu organisieren begann. Es ist höchst zweifelhaft dass Bernard Gratas eine solche Initiative allein ergriffen hatte. Wahrscheinlich wurde sie ihm von jemandem eingeflüstert, der ungenannt bleiben muss, der aber sicherlich verstanden hatte, dass er hier ein Täubchen in Händen hielt, dessen teuerster und dringlichster Wunsch es war, ordentlich Federn zu lassen. Diese Partien zeitigten raschen Erfolg, sobald sich das Gerücht in der Gegend verbreitet hatte, Gratas sei ein ebenso bemitleidenswerter wie unvorsichtiger Spieler, der obendrein noch davon überzeugt sei, dass Poker reine Glückssache wäre und sich das Glück zum Schluss ja immer wende. Er begann, Zigarillos zu rauchen, die ihm keinerlei Hilfe boten, ebenso wenig wie die schwarze Sonnenbrille, die er inzwischen Tag und Nacht trug. Er verlor im großen Stile Geld und trieb dabei die Eleganz bis zu dem Punkt, seine Peiniger auch
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