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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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jetzt noch in ihrer leicht rauen Gastfreundlichkeit nur ›die Gallier‹ nannten und das Wort ausschließlich an sie richteten, um Bestellungen aufzugeben, so würde doch alles aufs Beste hinauslaufen, und je näher der Sommer rückte, umso zwar nicht grade freundschaftlicher, doch zumindest entspannter wurde die Atmosphäre, und Bernard Gratas war inzwischen eingeladen, Belote mitzuspielen, Vincent Leandri hatte sich sogar dazu entschlossen, ihm die Hand zu schütteln, bald schon imitiert von anderen Gästen der Bar, wenig Zeit nur bedürfte es und die dauerhafte Harmonie würde sich einstellen, von der Marie-Angèle träumte. Sie achtete nicht auf die Zeichen, die sie dennoch hätten beunruhigen müssen. Gratas gab sich nicht mehr damit zufrieden, die Runden zu servieren, er trank sie immer häufiger selbst, um dem einen oder anderen eine Freude zu bereiten, er ließ sich dazu hinreißen, erst zwei, dann drei Knöpfe seiner Hemden offen stehen zu lassen, Hemden, die er nun tailliert aussuchte, ein goldenes Panzerarmband gesellte sich rätselhafterweise um sein Handgelenk und als Krönung legte er sich gegen Ende des Sommers noch die doppelte Anschaffung einer Weste aus altem Leder sowie einen Barttrimmer zu, was selbstverständlich dem erfahrenen Auge nur das Schlimmste bedeuten konnte.

Als Anfang Juli Matthieu und Libero mit ihrem Abschluss in der Tasche im Dorf ankamen, hatte Bernard Gratas noch nicht die physische Verwandlung in Gang gebracht, die bald schon Symptom einer weitaus gewichtigeren und endgültigen inneren Umwälzung werden sollte. Er stand hinterm Tresen, seriös und aufrecht, einen Lappen in der Hand, ganz in der Nähe seiner Frau, die auf die Kasse achtgab, und schien gegen jede denkbare Form von Umwälzung gefeit, was Libero mit einem einzigen prägnanten Satz erfasste: »Der sieht wirklich aus wie ein Arschloch.«
    Doch weder er noch Matthieu dachten daran, auch nur die leiseste freundschaftliche Verbindung mit Gratas zu knüpfen, sie waren viel zu glücklich über ihre Ferien, als dass sie sich für diese Frage näher interessierten. Sie gingen jeden Abend aus. Sie trafen Mädchen. Sie gingen mit ihnen um Mitternacht schwimmen und nahmen sie manchmal mit hoch zurück ins Dorf. Sie begleiteten sie vor Morgengrauen heim und nutzten die Gelegenheit für einen Kaffee am Hafen. Die Passagierdampfer entluden ihre monströse Fracht Fleisch. Überall waren Unmengen von Menschen, Shorts, Flip-Flops, man vernahm Ausrufe des Entzückens sowie dumme Bemerkungen. Überall war Leben, zu viel Leben. Und sie betrachteten dieses wimmelnde Leben mit einem unsagbaren Gefühl von Überlegenheit und Erleichterung, als wäre es nicht von der gleichen Art wie das ihre, denn sie waren hier zu Hause, auch wenn sie im September wieder abreisen mussten. Matthieu hatte nie etwas anderes gekannt als dieses ständige Kommen und Gehen, es war aber das erste Mal nach so langer Abwesenheit, dass Libero wieder auf der Insel war. Seine Eltern waren von der Barbagia aus wie viele andere auch in den Sechzigerjahren eingewandert, er selbst aber hatte nie einen Fuß auf Sardinien gesetzt. Er kannte es nur durch die Erinnerungen seiner Mutter, eine elende Erde, alte Frauen mit sorgsam unterhalb des Mundes geknoteten Kopftüchern, Männer in Ledergamaschen, von denen Generationen italienischer Kriminologen Gliedmaße, Brustkorb und Schädel vermaßen und sorgsam jegliche Abweichung im Knochenbau notierten, um dessen Geheimsprache zu entschlüsseln und die unbestreitbare Einschreibung einer natürlichen Neigung zum Verbrechen und zur Rohheit an ihm zu entdecken. Ein verschwundenes Land. Ein Land, das ihn nicht mehr betraf. Libero war das jüngste von elf Geschwistern, deren ältestes, Sauveur, beinahe fünfundzwanzig Jahre älter war als er. Die Beschimpfungen und den Hass hatte er nicht mehr erfahren, die hier die sardischen Einwanderer erwartet hatten, die unterbezahlte Arbeit, die Verachtung, den Fahrer des Schulbusses, der, halb besoffen, die Kinder schlug, wenn sie an ihm vorbeizogen, »In diesem Land gibt es nur Sarden und Araber!«, und ihnen mörderische Blicke durch den Rückspiegel nachjagte. Alles vergeht, die terrorisierten Kinder, die sich stets im hinteren Teil des Busses mit zwischen den Schultern eingezogenem Kopf Terrain gesucht hatten, sie waren inzwischen zu Männern geworden und der Busfahrer war bereits tot, ohne dass auch nur irgendwer auf die Idee gekommen wäre, sein Grab mit Spucke zu beehren. Libero fühlte
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