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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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nie war, den sie verzweifelt mit Blicken sucht. Denn weit jenseits des Objektivs sucht sie den, der sich aufrecht halten sollte an ihrer Seite und dessen Abwesenheit so gleißend ist, dass man meinen möchte, diese Photographie sei im Sommer 1918 nur aufgenommen worden, um sie greifbar zu machen und eine Spur von ihr zu erhalten. Marcels Vater wurde in den Ardennen während der ersten Kämpfe gefangen gesetzt und arbeitet seit Kriegsbeginn in einem Salzbergwerk in Niederschlesien. Alle zwei Monate schickt er einen Brief, den er von einem seiner Kameraden schreiben lässt und den die Kinder lesen, bevor sie ihn laut der Mutter übersetzen. Die Briefe benötigen so viel Zeit, zu ihnen zu gelangen, dass sie stets Angst haben, nur noch das Echo der Stimme eines Toten zu vernehmen, getragen von unbekannter Schrift. Aber er ist nicht tot und er kommt im Februar 1919 zurück ins Dorf, damit Marcel das Licht der Welt erblicken kann. Seine Wimpern sind verbrannt, seine Fingernägel von der Säure wie abgefressen und an seinen spröden Lippen sieht man weiße Spuren toter Haut, die er nie mehr loswerden sollte. Er hat wahrscheinlich seine Kinder angeblickt, ohne sie wiederzuerkennen, seine Frau aber hatte sich nicht verändert, strahlte sie doch nie den Eindruck von Jugend oder Frische aus, und er hatte sie an sich gepresst, wobei Marcel nie verstanden hatte, was den einen ihrer beiden vertrockneten und zerschundenen Körper sich hatte an den anderen pressen lassen, Begehren konnte das nicht gewesen sein, nicht einmal ein animalischer Instinkt, vielleicht geschah es nur, da Marcel ihrer Umklammerung bedurfte, um die Vorhölle zu verlassen, aus deren Tiefen er, die Geburt erwartend, schon so lange hervorlugte, und es passierte also als Antwort auf seinen schweigsamen Ruf, dass sie einer auf den anderen krochen in dieser Nacht im Dunkel ihres Zimmers, ohne Lärm zu machen, um Jean-Baptiste und Jeanne-Marie nicht zu alarmieren, die zu schlafen vorgaben, ausgestreckt auf ihren Matratzen in einer Ecke des Raumes, mit klopfendem Herzen angesichts des Rätsels an Ächzern und heiseren Seufzern, die sie verstanden, ohne sie benennen zu können, vom Schwindel gepackt angesichts der Wucht des Geheimnisses, das so nah bei ihnen der Intimität Gewalt beimengte, während ihre Eltern bestialisch sich darin erschöpften, ihre Körper aneinander zu reiben und die Trockenheiten ihres eigenen Fleisches auswrangen und sondierten, um deren alte, von Traurigkeit, Trauer und Salz zum Versiegen gebrachten Quellen wiederzubeleben und aus den Tiefen ihrer Bäuche emporzuschöpfen, was noch verblieben war an Sekreten und Schleim, und wäre es auch nur eine Spur Feuchtigkeit, ein Hauch Flüssigkeit, die dem Leben als Blütenboden dient, ein einziger Tropfen, und sie hatten sich derart angestrengt, dass dieser singuläre Tropfen schließlich hervorgequollen kam und sich zwischen ihnen verflüssigte und das Leben weitergab, obgleich sie selbst ja kaum mehr lebendig waren. Marcel hatte sich immer vorgestellt – er hatte immer befürchtet, nicht gewollt, sondern nur auferlegt worden zu sein von einer undurchdringlichen kosmischen Notwendigkeit, die es ihm erlaubt hatte, im trockenen und feindseligen Bauch seiner Mutter zu gedeihen, während ein übel riechender Wind sich erhob und von der See kommend über die modrigen Ebenen die Ausdünstungen einer tödlichen Grippe mit sich trug und durch die Dörfer fegte und dutzendweise jene in hastig ausgehobene Gräben warf, die den Krieg überlebt hatten, ohne dass ihn irgendetwas hätte aufhalten können, der Giftfliege aus den alten Sagen gleich, diese aus der Verwesung eines unheilvollen Schädels geborene Fliege, die eines Morgens plötzlich aus dem Nichts seiner Augenhöhlen hervorgekrochen war, um ihren giftigen Odem auszudünsten und sich am Leben der Menschen zu nähren, bis sie so monströs groß geworden war und ihr Schatten ganze Dörfer in dunkle Nacht warf, dass allein der Speer des Erzengels sie endlich niederstrecken konnte. Der Erzengel aber hatte seit Langem schon seinen himmlischen Aufenthalt wieder eingenommen, wo er taub blieb gegen die Gebete und Prozessionen, er hatte sich abgewandt von denen, die da starben, angefangen bei den Schwächsten, den Kindern, den Alten, den schwangeren Frauen, Marcels Mutter aber blieb aufrecht, unerschütterlich und traurig, und der Wind, der unablässig um sie herum blies, verschonte ihren Herd. Er legte sich schließlich, einige Wochen vor Marcels Geburt, und
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