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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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ausgetragenen Schwangerschaften aus der Form geratener Körper wölbte sich über einen filigranen Klappstuhl, Libero hatte auf einem Mäuerchen hinter ihr Platz genommen und schaute auf drei seiner Brüder, die, von Schmierölschlieren überzogen, an einem alterslosen Wagen, dessen Motor ausgebaut worden war, sich zu schaffen machten. Als er Matthieu kommen sah, der sich der Zugkraft seiner Mutter widersetzte, indem er sich am Ende ihres Armes immer schwerer und noch schwerer werden ließ, blickte Libero ihn an, aufmerksam, starr und ohne zu lächeln, und Matthieu machte sich so schwer, dass Claudie Antonetti gezwungen war, abrupt stehen zu bleiben, und nur wenige Sekunden später brach er in Tränen aus, und zwar so heftig, dass ihr keine andere Wahl blieb, als ihn zurück nach Hause zu bringen, zu schnäuzen und ins Gebet zu nehmen. Er rettete sich schließlich in die Arme seiner großen Schwester, Aurélie, die wieder einmal die Aufgabe der stellvertretenden Mutter mit noch völlig kindlicher Ernsthaftigkeit erfüllte. Am späten Nachmittag klopfte Libero an ihre Tür und Matthieu folgte ihm freiwillig ins Dorf und ließ sich in ein Wirrwarr von geheimen Wegen, Quellen, wundersamen Insekten und Gassen führen, die sich Stück für Stück zu einem klar gegliederten Raum ordneten, bis sie eine Welt bildeten, die sehr rasch aufhörte, ihm Angst einzujagen und ihm stattdessen zur Obsession wurde. Je mehr Jahre ins Land zogen, desto häufiger gaben die aufkommenden Ferien Anlass zu heiklen Szenen, teilweise so heftig, dass Claudie es manchmal bereute, ihren Sohn auf den Weg einer Sozialisation gebracht zu haben, deren Konsequenzen sie nicht vorhergesehen hatte. Matthieu lebte nur noch in Erwartung des Sommers, und als er dreizehnjährig verstand, dass seine Eltern, wahre Ausgeburten an Egoismus, nicht eine Sekunde lang darüber nachdachten, ihre Anstellungen in Paris aufzugeben, um ihm zu ermöglichen, sich endgültig im Dorf niederzulassen, da wollte er sie nötigen, ihn zumindest während der Winterferien hinunterfahren zu lassen. Matthieu reagierte auf ihre Weigerung mit klar skandalösen Nervenzusammenbrüchen und Fastenzeiten, die zu kurz gewesen waren, um seiner Gesundheit wirklich zu schaden, aber ausreichend lang und theatralisch, um seine Eltern zur Verzweiflung zu bringen. Jacques und Claudie Antonetti sagten sich schweren Herzens, dass sie einen grauenhaften kleinen Scheißer gezeugt hatten, aber diese traurige Feststellung half ihnen keineswegs weiter, ihr Problem zu lösen. Jacques und Claudie waren Cousin und Cousine ersten Grades. Nachdem seine Frau im Wochenbett gestorben war, hatte Marcel Antonetti, der Vater von Jacques, verfügt, dass er unfähig sei, sich um einen Säugling zu kümmern, und hatte dann, wie sein ganzes weiteres Leben auch, Hilfe bei seiner Schwester Jeanne-Marie erbeten, die Jacques umgehend, ohne sich die geringsten Gedanken zu machen, bei sich aufnahm, um ihn zusammen mit ihrer Tochter Claudie aufzuziehen. Sie waren also gemeinsam aufgewachsen, und die Entdeckung ihrer Beziehung, auf die kurz darauf die öffentliche Bekanntgabe ihrer Absicht zu heiraten folgte, wurde selbstverständlich mit empörter Fassungslosigkeit seitens der gesamten Familie aufgenommen. Ihr Eigensinn war jedoch so ausgeprägt, dass die Heirat am Ende in Anwesenheit einer mageren Versammlung stattfand, der diese Zeremonie in keiner Sekunde den bewegenden Triumph der Liebe vor Augen führte, sondern den des Lasters und der Inzucht. Die Geburt von Aurélie, die aller Erwartung zum Trotz ein völlig gesundes Baby war, beschwichtigte ein wenig die familiären Spannungen und die von Matthieu spielte sich dann bereits in einer Atmosphäre von scheinbar perfekter Normalität ab. Bald jedoch wurde klar, dass Marcel, unfähig, sich gegen seinen Sohn oder seine Schwiegertochter zu wenden, seine Aggressionen gegen seine Enkelkinder richtete, und wenn er auch letzten Endes Aurélie bis zu einem Punkt wider Willen lieb gewonnen hatte, dass er sich manchmal zur Bekundung seniler Vergötterung hinreißen ließ, so verfolgte er Matthieu doch mit seiner Feindseligkeit und sogar, so unpassend ein solches Gefühl auch erscheinen mag, mit seinem Hass, als hätte der kleine Junge die schaurige Verbindung, der er entstammte, selbst herbeigeführt. All die Sommer über fing Claudie die feindlichen Blicke auf, die er ihrem Sohn zuwarf, und wenn Matthieu sich ihm näherte, um ihn zu umarmen, waren seine abwehrenden Bewegungen jedes
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