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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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muss eine alte erst zugrunde gehen. Und wir wissen auch, dass das Intervall, das sie trennt, unendlich kurz oder aber so lang sein kann, dass die Menschen jahrzehntelang lernen müssen, in Trostlosigkeit zu leben, um unfehlbar zu entdecken, dass sie es nicht können und dass sie letztendlich nicht gelebt haben. Vielleicht können wir selbst die beinahe unmerklichen Zeichen wahrnehmen, die verkünden, dass eine Welt grade verschwunden ist, nicht gemeint das Zischen von Granaten über den aufgewühlten Ebenen des Nordens, sondern der Auslösemechanismus einer Blende, die das gleißende Sommerlicht kaum trübt, die feine und ramponierte Hand einer jungen Frau, die ganz sanft, inmitten der Nacht, eine Türe schließt hinter dem, was nicht hätte ihr Leben sein sollen, oder das rechteckige Segel eines Schiffs, das vor den Küsten Hippo Regius’ über die blauen Wasser des Mittelmeers zieht und von Rom her die unerhörte Nachricht bringt, dass Menschen zwar noch immer existieren, ihre Welt aber nicht mehr ist.

»Empfindet also, Brüder, keine Vorbehalte gegenüber den Strafen Gottes.«

Inmitten der Nacht und sorgfältig darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, gleichwohl niemand sie hören konnte, verschloss Hayet die Tür ihrer kleinen Wohnung, die sie acht Jahre lang oberhalb der Bar, in der sie als Kellnerin arbeitete, bewohnt hatte, und dann verschwand sie. Gegen zehn Uhr morgens kehrten die Jäger von der Treibjagd zurück. Auf der Pritsche der Pick-ups drückten sich die vom Hetzlauf und Blutgeruch noch immer berauschten Hunde eng gegeneinander, wedelten hektisch mit den Schwänzen, heulten und stießen hysterisches Gekläff in die Luft, auf welches die Männer, beinahe ebenso vergnügt und übererregt wie sie, mit Beschimpfungen und Verwünschungen reagierten, und Virgile Ordionis wuchtiger Leib wurde von unterdrückten Lachern erschüttert, während die anderen ihm anerkennend auf die Schulter klopften, da er allein drei der fünf Keiler des Vormittags getötet hatte, und Virgile errötete und lachte, während Vincent Leandri, der einen fetten Eber auf nicht einmal dreißig Meter Entfernung jämmerlich verfehlt hatte, sich darüber beklagte, zu nichts mehr zu taugen, und sagte, der einzige Grund, warum er an den Treibjagden festhalte, sei der Aperitif im Anschluss, und da schrie jemand, dass die Bar zu sei. Hayet war stets ebenso pünktlich und zuverlässig gewesen wie der Lauf der Sterne und Vincent dachte sofort, ihr sei Unheil widerfahren. Er stieg eilig hoch zur Wohnung, klopfte erst sanft an die Tür, bevor er dann mehrmals vergeblich auf sie eintrommelte, »Hayet! Hayet!« rufend, »Ist alles in Ordnung? Antworte bitte!«, und dann kündigte er an, dass er die Tür aufbrechen werde. Irgendjemand legte Vincent nahe, sich zu beruhigen, Hayet könnte doch gut fortgegangen sein, um einen dringlichen Einkauf zu erledigen, obschon es äußerst schwierig, ja beinahe unmöglich war, sich vorzustellen, im Dorf zu Herbstbeginn und obendrein noch an einem Sonntag einen wenn auch nur sehr geringen Einkauf zu tätigen, der dann aber auch noch so dringlich gewesen wäre, dass die Bar zu schließen gerechtfertigt war, aber wer wisse das schon?, und Hayet werde ganz sicher wiederkommen, aber sie kam nicht wieder und Vincent wiederholte, dass er jetzt die Tür wirklich einschlagen werde, es wurde zunehmend schwieriger, ihn zu bändigen, und schließlich einigte man sich darauf, die vernünftigste Lösung wäre, Marie-Angèle Susini darüber in Kenntnis zu setzen, dass ihre Kellnerin, so unwahrscheinlich es auch erscheinen mochte, weg war. Marie-Angèle empfing sie argwöhnisch und unterstellte ihnen gar, sie wären schon besoffen und würden ihr eine zweifelhafte Posse vorgaukeln, aber mit Ausnahme von Virgile, der, ohne zu wissen warum, noch immer ab und an lachte, wirkten sie alle erschöpft und müde, vollkommen nüchtern und auch seltsam unruhig, und Vincent Leandri schien sogar richtiggehend verstört, sodass Marie-Angèle sich den Zweitschlüssel von Bar und Wohnung schnappte und ihnen folgte, immer unruhiger nun auch sie, und hinaufstieg und Hayets Wohnung öffnete. Der Haushalt war peinlich sauber, nicht ein Körnchen Staub war da, das Steingut und die Armaturen glänzten, die Wandschränke und Schubladen waren leer, die Betttücher und Kopfkissenbezüge gewechselt, es war nichts von Hayet geblieben, nicht ein Ohrring, der hinter ein Möbelstück gerutscht wäre, keine einzige in irgendeinem Winkel des Badezimmers
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