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Untergang

Untergang

Titel: Untergang
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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vergessene Haarspange, kein Papierfitzel, nicht einmal ein einzelnes Haar, und Marie-Angèle war überrascht, ausschließlich den Geruch von Reinigungsmitteln wahrzunehmen, als hätte hier seit Jahren kein menschliches Wesen gelebt. Sie betrachtete die tote Wohnung, sie verstand nicht, warum Hayet einfach so verschwunden war, ohne Abschiedsgruß, aber sie wusste, dass sie nicht mehr wiederkommen würde und sie einander nicht mehr sehen sollten. Sie hörte eine Stimme sagen: »Wir sollten besser die Bullen informieren«, aber sie schüttelte traurig den Kopf und niemand insistierte, denn es war klar, dass die lautlose Tragödie, die sich hier abgespielt hatte, nachts zu unbekannter Stunde, nur eine einzige in den Abgründen ihres einsamen Herzens, dem die Gesellschaft der Menschen keine Gerechtigkeit mehr widerfahren lassen konnte, tief verletzte Person betraf. Sie schwiegen eine Zeit lang und dann sagte jemand schüchtern: »Da du schon mal da bist, Marie-Angèle, könntest du sie auch aufschließen, die Bar, damit wir wenigstens unseren Aperitif trinken können«, und Marie-Angèle stimmte stillschweigend zu. Ein befriedigtes Murmeln drang durch die Gruppe der Jäger, Virgile fing sehr laut an zu lachen, und sie gingen auf die Bar zu, während die Hunde unter der Sonne jammerten und kläfften und Vincent Leandri vor sich hin murmelte: »Ihr seid eine Bande von Säufern und Arschlöchern«, und ihnen in die Bar folgte. Marie-Angèle, jetzt hinterm Tresen, machte die Handgriffe, die sie so gut kannte und so gern hätte vergessen wollen, sie betätigte sich geschickt zwischen den Gläsern und Eisbehältern, merkte sich im Kopf der Reihe nach und ohne den geringsten Fehler die mit dröhnenden und zunehmend unsicheren Stimmen in höllischem Rhythmus gebrüllten Bestellungen, sie lauschte den zerfahrenen Unterhaltungen, den immer gleichen, hundertfach erzählten Geschichten mit ihren Varianten und unwahrscheinlichen Übertreibungen, der Art, wie Virgile Ordioni niemals vergaß, aus den noch dampfenden Eingeweiden des toten Keilers feine Streifen Leber herauszuschneiden, die er so aß, ganz warm und roh, mit der Sanftheit eines prähistorischen Menschen, trotz aller Ekelbekundungen, auf die hin er seinen armen Vater in Erinnerung rief, der ihn stets gelehrt hatte, dass es nichts Besseres gäbe für die Gesundheit, und durch die Bar schallten nun die nämlichen Ekelbekundungen, geballte Fäuste schlugen auf den von Pastis feuchten Zink des Tresens und Lacher waren noch immer zu vernehmen und es wurde gesagt, Virgile sei ein Tier, aber ein verdammt guter Schütze, und in seinem Winkel starrte Vincent Leandri ganz allein sein Glas mit hoffnungsleeren Augen an. Je mehr Zeit verging, umso klarer wurde Marie-Angèle, dass sie nicht bereit war, diese Arbeit wieder aufzunehmen, die ihr noch unerträglicher vorkam, als sie gedacht hatte. Jahrelang hatte sie sich auf Hayet verlassen, ihr mehr und mehr die Leitung der Bar überantwortet, im vollsten Vertrauen, als wäre sie Teil der Familie, und Marie-Angèle fühlte ihr Herz sich zusammenziehen, als sie darüber nachsann, dass sie hatte verschwinden können, ohne auf eine Umarmung zum Abschied vorbeigeschaut oder auch nur einen Gruß geschrieben zu haben, ein paar Zeilen zumindest, die ihr bewiesen hätten, dass sich hier etwas zugetragen hatte, etwas, das von Gewicht war, aber dies, Marie-Angèle verstand es, war genau das, was Hayet unmöglich hatte tun können, denn es war deutlich, dass sie nicht nur verschwinden, sondern sämtliche ihrer hier verbrachten Jahre auslöschen und nichts anderes von ihnen bewahren hatte wollen als ihre schönen, frühzeitig ramponierten Hände, die sie möglicherweise hätte abhacken und zurücklassen mögen, wäre dies nur möglich gewesen, und die manische und wütende Art, mit der sie den Haushalt gereinigt hatte, war nichts als das Zeichen eines unbeugsamen Willens zur Auslöschung und des Glaubens daran, dass kraft des Willens man aus seinem Leben all jene Jahre wischen konnte, die man nicht hatte erleben wollen, selbst wenn es dafür nötig war, alles bis hin zur Erinnerung an jene, die uns liebten, wegzuwischen. Und als sie eine weitere Runde Pastis in so voll gefüllten Gläsern servierte, dass kein Wasser mehr in ihnen Platz fand, ertappte sich Marie-Angèle bei der Hoffnung, dass Hayet, egal wo sie war und auf welches Ziel sie wohl zusteuerte, sich, wenn auch nicht grade glücklich, so doch zumindest befreit fühlen möge, und
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