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Unter Tage

Unter Tage

Titel: Unter Tage
Autoren: Thomas Ziegler
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überanstrengt. Die meisten Kollegen in dem Großraumbüro trugen Brillen oder Contactlinsen. Shreiber nicht. Vielleicht war dies einer der Gründe, warum nur er – nur er allein – die Anwesenheit des Feindes bemerkt hatte. Vielleicht erzeugte der Feind eine gewisse, noch unerforschte Strahlungskomponente, die den Brechungsindex der Glas- und Kunststofflinsen beeinflußte und ihn so für viele Augen unsichtbar bleiben ließ. Oder es gab noch andere, weit fantastischere Methoden, von denen Shreiber nicht einmal etwas ahnte. Alles war möglich. Buchstäblich alles.
    Shreibers Augen brannten. Er betrachtete die Ziffernkolonnen, stoppte den Vorlauf, drückte die Output-Taste, forschte nach Querverbindungen, veränderte das Programm, ließ hochrechnen und prognostizieren, preßte die kühlen Kunststoffknöpfe und betrachtete die Ziffernkolonnen.
    Aber warum gerade er? Eine gute Frage. Warum nicht Blattern? Oder Wollmann? Oder Flecht, Pahlke, Freiländer …? Warum nicht einer von den acht Milliarden anderen Menschen der Erde? Andererseits – wie konnte er sicher sein, daß er allein war? Möglicherweise gab es tatsächlich Menschen, die so wie er es verstanden hatten, die richtigen Schlüsse zu ziehen und auf die versteckten Spuren und Hinweise zu achten. Doch wenn es sie gab, so wußte er nichts von ihrer Existenz – und sie nichts von seiner … Er schwitzte. Diese Spekulationen brachten ihn nicht weiter. Sie waren unnütz. Gefährlich sogar.
    Bis auf das Rattern der Ausdrucker und dem verhaltenen Fauchen der Klimaanlage war es still in dem großen Bürosaal.
    Shreiber schwitzte. Es war kühl, aber er schwitzte. Wenn er sich beeilte, konnte er es unter Umständen doch schaffen. Vielleicht war es ihm sogar möglich, die verlangte Analyse vor Ablauf der festgesetzten Frist fertigzustellen und sie mit einer nonchalanten Geste auf Blatterns Schreibtisch zu werfen und dann milde lächelnd den Raum des Abteilungsleiters zu verlassen … Shreiber fluchte lautlos. Tagträume! Tagträume, wie sie jeden überfielen, der Stunde um Stunde vor dem eintönig flimmernden Monitor saß und Zahlen und Buchstaben in den Elektrospeicher tippte. Gefährliche Tagträume. Er schüttelte den Kopf. Nein, er durfte sich keine Illusionen erlauben, keinen Fantasien hingeben. Da war Blattern, der auf die Analyse wartete – und da war der Feind.
    Er veränderte erneut das Programm, griff auf die Speicher zurück und ließ eine Flut aufgelisteter Zahlen ausdrucken.
    Wahrscheinlich, dachte er, war er doch der einzige, der diese kosmische, monströse Verschwörung durchschaut hatte. Der Feind tarnte sich zu gut, um von irgendwelchen dahergelaufenen Narren identifiziert werden zu können. Zu perfekt waren die Ablenkungsmanöver, die er betrieb, um anonym seinen rätselhaften, aber mit Sicherheit verderbenbringenden Plänen nachgehen zu können. Und zu durchtrieben waren seine Methoden, mit denen er überall einsickerte und seine Handlanger manipulierte … Der Feind besaß Myriaden Augen und Ohren und ungezählte Helfer. Und nur einer, Shreiber, kannte die unermeßliche Gefahr, die diese außerweltliche, außerzeitliche, außermenschliche Macht für die Erde bedeutete.
    So war der Feind. So ging er vor. So agierte er. Im Dunkeln. Heimlich. Und nur für einen sichtbar. Wenn er doch nur den Grund kennen würde! Zweifellos war er für den Feind von größter Wichtigkeit. Oder man hätte sich nicht soviel Mühe gemacht, ihn zu überwachen, ihn zu töten. Konnte es sein, daß der Feind ihn … fürchtete? Vermochte er seine Ziele nur zu erreichen, wenn Shreiber nicht mehr lebte? Aber natürlich sagte dies noch nichts über die eigentlichen Absichten des Feindes.
    Shreiber straffte sich. Er mußte sich in acht nehmen. Die Schlinge legte sich mit jedem Tag enger um seinen Hals. Bislang hatten ihn allein Umsicht und Glück vor dem Tode bewahrt. Und nicht alle Anschläge waren so perfekt geplant und so klug vorbereitet wie an diesem Morgen die Sache mit den mörderischen Fahrstühlen. Doch der Feind lernte. Jene tagtäglichen Unbequemlichkeiten, Ärgernisse und störenden Zwischenfälle … Sie sollten ihn irritieren, ablenken. Von den anderen Dingen. Beispielsweise von einem tödlichen Lift. Oder von einem arrangierten Verkehrsunfall.
    »Zehn-fünfzehn«, sagte das Chron an der Wand.
    Klickend erstarb das Surren der Terminals. Nur Shreiber arbeitete weiter. Die Frühstückspause hindurch.
     
    Du hörst ihn nicht.
    Du siehst ihn nicht.
    Schon packt er
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