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Unter Tage

Unter Tage

Titel: Unter Tage
Autoren: Thomas Ziegler
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Reaktor-Umfeld als dekontaminiert anzusehen sind. Ein Urbarmachungsprogramm wird derzeit von den zuständigen Gremien erarbeitet.
    Nach Mitteilungen des Wirtschafts- und Arbeitsministeriums und Aussagen führender Persönlichkeiten des Ökologischen Beirates sind die leichten Ölverunreinigungen der Nordsee durch eine defekte Bohrinsel vor der englischen Küste unbedenklicher Natur. Bleibende Schäden werden ausgeschlossen.«
    Shreiber blinzelte.
    »Einer Meldung der Nachrichtenagentur abn zufolge beabsichtigt die inzwischen vierjährig amtierende Allparteienregierung des Nationalen Notstandes nicht, die Städte Hamburg und Kiel von der Sondergesetzgebung auszunehmen. Innenminister Hynnekken erklärte, die Aufstände seien nur vorübergehend niedergeschlagen und mit weiteren Aktionen der illegalen Radikaldemokratischen Partei zu rechnen.«
    Irgend etwas hatte Shreiber mißtrauisch gemacht.
    »Nun noch eine interne Mitteilung der Geschäftsleitung. In letzter Zeit sind verstärkt Flugblätter obskurer Gruppen im Betrieb aufgetaucht, deren Inhalt geeignet ist, den Arbeitsfrieden zu stören. Für die Ermittlung der Täter wird aufmerksamen Mitarbeitern eine Prämie in Höhe eines Monatsgehaltes in Aussicht gestellt.«
    Shreiber dachte nach. Dieser Argwohn, dieses kurze Erschrecken … Was hatte sein Mißtrauen ausgelöst? Die steigende Arbeitslosenzahl? Die Aufstände? Die Flugblätter? Nein, nein, vertraute Nachrichten, und die Worte waren wie immer, die gleiche Diktion, die gleiche Betonung. Die Nordsee? Das Öl? Shreiber ließ seine Finger mechanisch über die Tastatur gleiten, sah ihren emsigen Bewegungen nachdenklich zu. Ein Anhaltspunkt? Unter Umständen; vor allem, wenn man alle anderen Erfahrungen des heutigen Tages hinzuaddierte, gewisse Verbindungen herstellte. Unter Umständen war es kein Zufall, kein unbeabsichtigtes Zusammentreffen mehrerer voneinander unabhängiger Ereignisse. Unter Umständen hatte der Disput zwischen Blattern und Flecht nur stattgefunden, um Shreibers Aufmerksamkeit und seine Gedanken von dieser einen, bestimmten Meldung abzulenken.
    Ausgelaufenes Öl war allerdings nichts Neues, nein, wirklich nicht, und man hatte sich im Lauf der Jahrzehnte daran gewöhnt, man hörte darüber hinweg. Aber diesmal …
    »Sie träumen wieder, nicht wahr, Shreiber?« fragte Blattern ironisch.
    Shreiber sah starr auf den Monitor, las die huschenden Datenanzeigen. »Nein«, sagte er. »Ich … suche nur nach … Nun ja.«
    Blattern verschränkte die Arme und sah sinnend von Shreiber zu Flecht. »Tja«, sagte Blattern. Langsam schlenderte er davon, erreichte die Tür und schien den Bürosaal verlassen zu wollen, da verharrte er plötzlich und drehte den Kopf.
    Shreiber blickte direkt in Blatterns blasse, kalte Glasaugen, die ihn starr fixierten, bis Shreiber schließlich fortschaute und schwitzte und gegen die Gedankenflut ankämpfte. Er begriff. Er erinnerte sich. Nordsee! Die Ölpest! Und Blattern hatte vor Jahren in der Kieler Filiale gearbeitet! Und jetzt diese Augen, diese verräterischen, toten, starren Augen … Die Verbindung. Shreiber schwitzte und schluckte. Das Öl. Gott, das Öl! Er sah es vor sich, wie es wie ein schmatzender, schwarzer Teppich die See bedeckte. Es glättete die Wogen und verbarg alles unter der Wasseroberfläche vor den neugierigen Blicken der Menschen. Hunderte von Quadratkilometern mußte dieser fette, undurchsichtige Ölfilm bedecken, und darunter …
    Der Feind.
    Auch dort! Und Blattern – ein Beobachter, ein Henker vielleicht …
     
    Trau ihm nicht.
    Glaub ihm nicht.
    Sieh dich vor.
     
    »Bleiben Sie im Lokal!« sagte das Chron. »Betreten Sie nicht die Straße. Vorübergehend gilt in der Stadt das Notstandsgesetz. Es wurden gewalttätige Aktionen der illegalen Radikaldemokratischen Partei und militanter Chaoten gemeldet. Betreten Sie nicht die Straße. Bleiben Sie im Lokal!«
    Shreiber ballte die Fäuste. Ihn erfüllte eine Mischung aus Mißtrauen, Angst und hilfloser Wut, seitdem er erkannt hatte, daß auch Blattern zu den Handlangern des Feindes gehörte, daß er einer der Kreaturen war, die ihn im Auftrag einer scheinbar körperlosen, aber allgegenwärtigen negativen Macht beobachteten, einer Macht, von der Shreiber nur wußte, daß sie ihn und alle anderen Menschen des Planeten Erde zu vernichten trachtete. Vor allem ihn. Ihn zuerst. Vielleicht war seine Verwirrung dafür verantwortlich, daß er nach Büroschluß Flechts überraschende Einladung zu einem Bummel
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